Wie ein Niederländer im Oberland Fuss fasste
Text: Daniel Göring, Fotos: Louis Pasquier
Es ist Anfang Nachmittag. Tom Cranen begrüsst Frau Mürner (Name geändert) im Therapiezimmer. Er schüttelt ihre linke Hand, die rechte steckt in einer einbandagierten Schiene, eine Schlinge hält den Arm waagrecht vor ihrem Körper. Vor einer Woche ist Frau Mürner operiert worden. Der 85-Jährigen waren bei einem Sturz die Sehnen am kleinen und am Ringfinger gerissen. Die heutige Sitzung dient dazu, der Patientin eine gutsitzende neue Schiene anzupassen. Diese sorgt dafür, dass die Finger gestreckt bleiben und die wieder zusammengefügten Sehnen sich erholen können. Drei Monate lang wird Frau Mürner die Schiene tragen müssen.
Schon in seiner Heimat, im Süden der Niederlande war Tom Cranen als Handtherapeut tätig.
Tom Cranen erwärmt ein steifes Stück Thermoplast in einem Becken mit temperiertem Wasser. So wird es weich und geschmeidig. Dann wickelt er das Tuch um den Unterarm und die Hand von Frau Mürner und formt die Schiene sorgsam um die beiden versehrten Finger. Nach wenigen Minuten ist die Stütze trocken und Tom Cranen fixiert sie mit zwei Klettbändern am Unterarm der Patientin. «Wie fühlt es sich an?» will er von ihr wissen. «Ganz gäbig», antwortet Frau Mürner und lächelt erleichtert.
Luftveränderung gesucht
Tom Cranen ist Ergotherapeut und stammt aus den Niederlanden. Seit Spätherbst 2021 arbeitet er im fmi-Spital Interlaken, vor kurzem hat er die Leitung des fünfköpfigen Teams übernommen. Zuvor war er in seiner Heimat, der südlichen Provinz Limburg, als Handtherapeut tätig. Während der Coronapandemie auf sich selbst zurückgeworfen, sei der Wunsch nach einer Luftveränderung aufgekommen, erzählt er. Da Tom oft und gerne mit dem Rennrad in den Hügeln der südlichen Niederlande unterwegs war und sich auch mal an längere Steigungen wagen wollte, rückte die Schweiz mit ihren Alpenpässen als Destination in den Fokus.
«Die Berge und die beiden Seen haben mir auf Anhieb gefallen.»
Ohne lange zu überlegen, bewarb sich Tom Cranen als Ergotherapeut bei fmi, fuhr kurz darauf für einen Schnuppertag sieben Stunden mit dem Zug ins Berner Oberland.
Über ein Arbeitsvermittlungsbüro erfuhr er, dass das Spital Interlaken auf der Suche nach einem Ergotherapeuten war. Ohne lange zu überlegen, bewarb er sich auf den Job und fuhr kurz darauf für einen Schnuppertag sieben Stunden mit dem Zug ins Berner Oberland. «Die Berge und die beiden Seen haben mir auf Anhieb gefallen», schwärmt Tom Cranen. Und nachdem das Probearbeiten im Spital zur Zufriedenheit beider Seiten verlaufen sei, habe er gedacht, «das kann ganz prima werden hier.»
Sportlich die Region erkundet
Im November 2021 reiste der Ergotherapeut mit Sack und Pack nach Interlaken. Einzig Jara, die Australische Schäferhündin, musste er bei seinen Eltern zurücklassen. Er lebte sich im Berner Oberland schnell ein, obwohl er zugibt, dass die Sprache und insbesondere die Mundart anfänglich eine Herausforderung gewesen seien. Mittlerweile komme er gut zurecht: «Ich verstehe fast alles, was die Leute sagen.» Angenommen hat Tom das Schweizerdeutsche noch nicht, auch wenn sich die Schatulle seines Wortschatzes inzwischen mit einzelnen Begriffen wie «grüessech» und «bruuche» gefüllt hat.
Seine neue Heimat erkundet Tom Cranen gerne mit dem Rennvelo, auf Wanderungen oder über Klettersteige.
Kurz nach der Ankunft begann Tom Cranen, die Region mit dem Rennvelo, auf Wanderungen sowie über Klettersteige zu erkunden. Im Winter schnallt er sich das Snowboard an und rauscht die mannigfaltigen Pisten hinunter. «Der Sport ist mein liebstes Hobby, ich kann mich bewegen und erst noch die fantastische Landschaft geniessen.» Apropos Bewegung: Im Umgang mit den Patientinnen und Patientinnen wird ihm immer wieder bewusst, wie schnell eine körperliche Beeinträchtigung vermeintlich selbstverständliche Tätigkeiten verunmöglicht und dem Menschen ein Stück Selbständigkeit rauben kann.
Freude an kleinen Fortschritten
Tom Cranen freut sich deshalb immer, wenn Patientinnen und Patienten durch eine Therapie Fortschritte machen. Mögen es noch so kleine sein, sie helfen stets, dass eine Person ihre Eigenständigkeit mindestens teilweise zurückgewinnen kann: «Es ist eine wunderschöne Erfahrung, zu sehen, wie eine Person, die anfänglich noch Angst vor einer einfachen Bewegung hatte, diese nach drei Monaten so selbstverständlich ausführt, als hätte sie nie ein Problem gehabt.»
So weit ist Frau Mürner noch nicht. Sie wird in drei Wochen mit ihrer Therapie beginnen. Tom Cranen entlässt sie aus der Sitzung mit einer Serie von Terminen und dem Hinweis, die Finger der rechten Hand gestreckt zu halten, wenn sie die Schiene mal für kurze Zeit abnimmt. So sorgt die Patientin vor, dass die noch anfälligen Sehnen nicht wieder reissen.
Ergotherapie
Ergotherapeutinnen und -therapeuten unterstützen und begleiten Menschen, die in ihrer Handlungsfähigkeit beeinträchtigt sind oder denen solche Einschränkungen drohen. Mögliche Gründe sind Unfälle, Krankheiten, Entwicklungsstörungen oder psychische Beeinträchtigungen. Die Ergotherapie beinhaltet medizinische, psychologische, pädagogische und soziale Elemente. Sie will Patientinnen und Patienten befähigen, ihren Alltag möglichst autonom zu bewältigen und am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben.
Die Ausbildung zur Ergotherapeutin oder zum Ergotherapeuten erfolgt in einem dreijährigen Studium an einer Fachhochschule. Ein Drittel der Zeit verbringen die Absolventinnen und Absolventen in Praktika. Voraussetzung für das Studium sind eine Berufs-, Fach- oder gymnasiale Maturität sowie ein einjähriges Vorpraktikum, davon mindestens acht Monate in einer Einrichtung des Gesundheits- oder Sozialwesens.
Zur Person
Tom Cranen ist 34-jährig und wohnt in Wilderswil. Bevor der Niederländer sich in seiner Heimat zum Ergotherapeuten ausbilden liess, studierte er Naturwissenschaft und Sport, machte aber keinen Abschluss. In seiner Freizeit treibt er oft Sport und schaut regemässig Fernsehserien, am liebsten «The Wire», eine amerikanische Krimireihe. Zudem spielt er gerne Videogames, bevorzugt Abenteuer- und Strategiespiele.
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