Damit die Stimme nicht verstummt
Text: Daniel Göring, Fotos: Sandro Hügli
Der Mann beugt sich langsam vor und mustert die Schwarzweiss-Zeichnung auf der Karte, die vor ihm auf dem Tisch liegt. «Jemand wechselt einen Pneu.» Esther Rüfenacht nickt zustimmend und legt eine weitere Karte hin. «Jemand blickt in den Spiegel.» – «Schauen Sie nochmals genau hin, Herr Gerber», fordert die Logopädin ihn auf. «Ah ja, da malt jemand auf eine Leinwand.» Esther Rüfenacht nickt wieder, will den Satz aber erneut hören – diesmal etwas lauter. Der Mann tut, wie ihm geheissen und holt sich dafür ein dickes Lob der Sprachtherapeutin ab.
Alfred Gerber (Name geändert) leidet an der Parkinsonkrankeit. Der 85-Jährige besucht einmal wöchentlich eine Logopädiestunde im Spital Interlaken. Ziel der Behandlung ist es, seine Stimme zu stützen. «Bei Parkinsonpatientinnen und -patienten kommt es oft vor, dass die Stimme leiser wird», erklärt Esther Rüfenacht. Die Übungen, die Alfred Gerber während der 45-minütigen Therapie macht, trainieren die Muskulatur und verhindern, dass seine Stimme immer schwächer und heiserer wird. Es soll nicht so weit kommen, dass er sich eines Tages kaum noch verbal ausdrücken kann. «Wir leiten Menschen mit Parkinson an, ihre Stimme im Alltag wahrzunehmen und sie auch bewusst einzusetzen», führt Esther Rüfenacht aus.
Esther Rüfenacht arbeitet seit dreieinhalb Jahren als Logopädin für die Spitäler fmi AG.
Breites Tätigkeitsfeld
«Die Sprache ist für uns Menschen das zentrale Mittel der Kommunikation. Es macht mir Spass, wenn ich einer Person helfen kann, sich wieder mit Worten auszudrücken und mit anderen Menschen einen Dialog zu führen», betont Rüfenacht. Neben Patientinnen und Patienten mit einer beeinträchtigten Stimme sitzen der Logopädin oft auch solche gegenüber, welche die Fähigkeit zu sprechen teilweise oder ganz verloren haben. Ursachen können ein Schlaganfall, ein Schädel-Hirn-Trauma nach einem Unfall oder ein Tumor sein, der auf das Sprachzentrum im Gehirn drückt.
Zu den Klientinnen und Klienten der Logopädie gehören im Weiteren Personen, deren Schluckvermögen nicht mehr richtig funktioniert. Unter ihnen befinden sich immer mehr Betagte. Da auch die Muskeln in Mund und Rachen mit zunehmender Lebensdauer an Elastizität und Kraft verlieren, vermag eine Erkrankung oder Entzündung schneller Probleme beim Schlucken zu provozieren als bei jüngeren Menschen. Eine Therapie umfasst unter anderem Übungen, um die Schluckmuskeln zu stärken oder bestimmte Schlucktechniken zu erlernen. Bei gröberen Schwierigkeiten kommt es laut Esther Rüfenacht dann und wann vor, dass eine Person die Ernährung umstellen muss oder die Mahlzeiten zum Beispiel nur noch in pürierter Form einnehmen kann.
An ihrem Beruf schätzt Esther Rüfenacht, dass sie Patientinnen und Patienten befähigen kann, verloren gegangene Fertigkeiten zurückzugewinnen und den Alltag wieder leichter zu gestalten.
Triviale Fertigkeiten zurückgewinnen
Neben dem mannigfaltigen Tätigkeitsfeld schätzt Esther Rüfenacht an ihrem Beruf, dass sie Patientinnen und Patienten befähigen kann, verloren gegangene triviale menschliche Fertigkeiten zurückzugewinnen und den Alltag wieder leichter zu gestalten. Und nicht zuletzt mag die Logopädin, wenn sie von Patientinnen und Patienten Geschichten aus deren Leben zu hören bekommt. Dass es schon mal zehn Minuten dauert, bis ihr eine Klientin mit einer Sprachstörung erzählt hat, wie sie am Wochenende vor dem Fernseher sass und bei den Skirennen mit den Schweizer Fahrerinnen und Fahrern mitfieberte, tut der Freude Rüfenachts keinen Abbruch.
«Ihre Stimme hat noch richtig Pfupf!»
In einer weiteren Übung seiner Therapiestunde soll Alfred Gerber die Wochentage hintereinander aufsagen und dabei nicht leiser zu werden. Der Patient zählt die Tage auf, doch nach dem Donnerstag zeigt seine Stimme ein kleines Formtief, gleitet ihm weg ins Flüstern. Esther Rüfenacht bittet um eine Wiederholung und ermuntert ihn, mit der Lautstärke nicht nachzulassen. Nun kommen die Tage klar und kräftig. «Ihre Stimme hat noch richtig Pfupf», lobt ihn die Logopädin, «sie will bloss nicht immer.» Das Strahlen, das in diesem Moment über Alfred Gerbers Gesicht huscht, lässt sich mit keinen Worten beschreiben.
Logopädie
Das Angebot der Logopädie umfasst die Behandlung von Erwachsenen, die an einer Sprachstörung leiden, Probleme mit der Stimme oder beim Sprechen, mit Schlucken oder eine Gesichtslähmung haben. Im Spital Frutigen behandeln die Logopädinnen auch Kinder. Behandlungen erfolgen sowohl stationär als auch ambulant an den Spitälern Interlaken und Frutigen. Eine Therapie ist immer individuell auf die Patientin oder den Patienten zugeschnitten. Die Massnahmen orientieren sich an der Grunderkrankung und den persönlichen Bedürfnissen der Menschen im Alltag.
Wer als Logopädin oder als Logopäde arbeiten will, muss ein dreijähriges Studium an einer Universität oder Fachhochschule absolvieren. Neben dem Unterricht gehören mehrere Praktika zur Ausbildung. Voraussetzungen für ein Logopädiestudium sind neben der Matur eine Überprüfung von Gehör, Stimme, Sprach-, Sprech-, Lese- und Schreibfähigkeit.
Zur Person
Esther Rüfenacht arbeitet seit dreieinhalb Jahren als Logopädin für die Spitäler fmi AG. Die 25-Jährige wohnt in der Nähe von Bern und engagiert sich in ihrer Freizeit in verschiedenen Funktionen für die Jungschar EMK. Als weiteres Hobby nennt sie die Handarbeit, worunter sie alles versteht, «was mit stricken, nähen, häkeln und sticken zu tun hat».
Kommentare