Ein grosses Herz für Schneesportler mit Handicap
Text: Daniel Göring, Fotos: Sandro Hügli / Roland Christen / Patrick Linder
Das Telefon klingelt. Ein Vater will für seine 12-jährigeTochter bis im Frühling einen Dualskibob mieten. Damit können er und die Tochter, die eine cerebrale Bewegungsbeeinträchtigung hat, gemeinsam Skifahren gehen. Weil das Mädchen vor kurzem eine Operation hatte, sollte das Gerät seinen Rücken gut stützen können. «Kein Problem», meint Reini Linder, «ich ersetze den Sitz des Bobs, den Sie letzte Saison hatten, durch einen höheren.» Er müsse das Gerät auch noch warten, aber bis übermorgen sei es abholbereit, erklärt Reini Linder ins Telefon. Der Vater ist erfreut und kündigt an, dann vorbeizukommen.
Kindermonoskibob als Anfang
Reini Linder steht in einem rund 40 Quadratmeter grossen Raum mit hoher Decke in einer alten Industriehalle hinter dem Bahnhof Interlaken Ost. Um ihn herum stapeln sich Skisportgeräte für Menschen mit Handicaps: Monoskibobs, Dualskibobs, mit kurzen Skis versehene Spezialstöcke, so genannte Stabilos, Sitzschalen sowie mehrere Dutzend Paar Skis in verschiedenen Längen. Der Raum ist das Reich von Active Motion, der Schneesportschule Reini Linders. Sie ist ausgerichtet auf Menschen mit motorischen, sensorischen, geistigen, aber auch psychischen Beeinträchtigungen.
Im Materialraum von Reini Linders Schneesportschule stapeln sich verschiedenste Spezial-Skisportgeräte für Menschen mit Handicaps.
Alles bereit fürs nächste Kurswochenende? Reini Linder bei der Endkontrolle des vorbereiteten Materials.
Im Behindertensport angefangen hat Reini Linder vor gut 35 Jahren. Als Skilehrer und Trainer aktiv, realisierte er bald, dass es für Kinder keine Hilfsmittel gab, mit denen sie sitzend Skifahren lernen konnten. Er wollte junge Menschen mit Handicap für den Sport begeistern, also machte er sich im Ausland auf die Suche nach Geräten. Ein befreundeter Rollstuhlfahrer half ihm 1997, den ersten Monoskibob aus den USA zu importieren. «Dieser Kauf war die eigentliche Initialzündung für die Schneesportschule», meint Reini Linder rückblickend. Heute umfasst sein Lager an die 50 Sitzgeräte, und für die Schule kann er jeden Winter auf etwa 15 Schneesportlehrerinnen und -lehrer zählen, die im Mandat im Einsatz sind.
Vielfältige Dienstleistungen
Die Palette der Dienstleistungen reicht vom Unterricht im Schnee über technische Beratung bis zu Vermietung und Verkauf von Geräten sowie Reparatur- und Servicearbeiten. Neben Einzelpersonen betreut Active Motion nach Angaben von Reini Linder insbesondere heilpädagogische Schulen, bildet Lehrerinnen und Lehrer aus und stellt den technischen Support sicher. Doch auch Regelschulen gehören zu den Kundinnen von Reini Linders Firma, etwa wenn es darum geht, auch motorisch beeinträchtigte Kinder an einem Skilager teilnehmen zu lassen.
Ein besonderes Projekt stellt seit zehn Jahren das im Bündnerland stattfindende Skilager von ehemaligen britischen Soldaten dar, die aus den Kriegen in Afghanistan und Irak körperliche Handicaps oder seelische Traumata davongetragen haben, wie Reini Linder ausführt. Nicht zuletzt rüstet seine Schneesportschule die Skilager des nationalen Behindertensportverbandes Plusport aus, für den Reini Linder in einem Teilzeitmandat tätig ist.
Emotionen miterleben
Eine breitgefächerte Kundschaft mit ebensolchen Aufgaben und Aktivitäten, die dazu führen, dass der Inhaber von Active Motion den Winter hindurch fast täglich in einem Skigebiet irgendwo in der Schweiz anzutreffen ist. Wenn dann der Frühling ins Land gezogen ist und die Skigeräte fein säuberlich im Lager versorgt sind, geht Reini Linder im Spital Interlaken ein und aus, wo er einen Job als Physiotherapeut hat. In einem 50-Prozent-Pensum angestellt, arbeitet er die Sommermonate über praktisch Vollzeit, um sich im Winter auf die Schneesportschule konzentrieren zu können. «Ohne die Flexibilität des Spitals würde es die Schneesportschule in ihrer jetzigen Form nicht geben», windet er seiner Arbeitgeberin ein Kränzchen.
«Es ist eine wundervolle Erfahrung, wenn ich die Emotionen der Menschen im Schnee erleben kann.»
Eine Schule, die Reini Linder im Lauf der Jahre ans Herz gewachsen ist, das spürt, wer sich mit ihm über sein Engagement unterhält. «Es ist für mich immer wieder eine wundervolle Erfahrung, wenn ich die Emotionen der Menschen im Schnee erleben und daran teilhaben kann.» Für Reini Linder sind die Personen denn auch in erster Linie Sportlerinnen und Sportler – und nicht Handicapierte. Die technischen Hürden, die sie überwinden müssten, seien unterschiedlich hoch, doch es gebe immer eine Lösung, um ihnen zu Erfolgserlebnissen im Schnee zu verhelfen. «Für manche sind wenige Meter selbständiges Fahren eine unglaubliche Leistung, andere wiederum flitzen mir in ihren Skibobs regelrecht um die Ohren», erklärt Reini Linder mit einem Leuchten in den Augen.
Kursleiter Reini Linder (links) anlässlich eines Ausbildungskurses von PluSport Behindertensport Schweiz in Fiesch mit einem Kursteilnehmer auf einem Monoski für Rollstuhlfahrer:innen und/oder Personen mit starker Einschränkung der Gehfähigkeit.
Am Machbaren orientieren
Für den passionierten Schneesportlehrer steht die persönliche Entwicklung der Menschen im Zentrum. Hier sieht er die Verbindung zu seiner Tätigkeit als Physiotherapeut: «Es geht in beiden Fällen darum, das Potenzial einer Person einzuschätzen und sich am Machbaren zu orientieren.» Dafür, fügt Reini Linder hinzu, brauche es eine offene Optik auf den Menschen und seine Bedürfnisse. Natürlich zeigten auch Handicapierte Ehrgeiz und den Willen zu Spitzenleistungen.
Skitag im Berner Oberland: Reini Linder am Dualskibob mit Führungsbügel für Menschen mit Mehrfachbehinderung.
Reini Linder erwähnt als Beispiel zwei Schüler mit körperlichen Einschränkungen, die er von Kindesbeinen an begleitete. Der eine schaffte es 2014 an die Paralympics, der andere ist seit drei Jahren bei Active Motion als Monoski-Lehrer tätig. Doch für den Trainer zählt etwas anderes noch ein wenig mehr: «Es fasziniert mich immer wieder, wie sich die Sportlerinnen und Sportler nicht nur auf der Piste, sondern grundsätzlich im Leben behaupten lernen.»
Zur Person
Reini Linder ist Physiotherapeut und Skilehrer. Der 63-Jährige wohnt in Unterseen, ist verheiratet und Vater dreier Kinder. In seiner Freizeit übt Reini Linder mit Vorliebe sportliche Aktivitäten draussen aus. Die Bandbreite reicht von Biken über Ski- und Bergtouren bis zu Spielsportarten aller Art. Er bereist gerne andere Länder, geniesst aber auch die Natur vor der Haustüre. Reisen ins Ausland kombiniert er meistens mit kulturellen und sportlichen Aktivitäten. Seine letzte Skireise führte ihn in den Sarek National Park in Schweden, wo er zwei Wochen mit Ski, Pulkaschlitten und Zelt unterwegs war.
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