«Nach vier Tagen dachte ich: Wow, hier gehöre ich hin»
Text: Daniel Göring, Fotos: Louis Pasquier
Sie sind Ende 2021 aus dem Seeland nach Interlaken gekommen. Was charakterisiert das Berner Oberland für Sie?
Eine Art zweite Heimat. Meine erste Heimat ist St. Gallen, wo ich aufgewachsen bin, die zweite das Berner Oberland. Als ich vor 30 Jahren nach Bern kam, suchte ich mir einen Ort, wo ich verweilen und die Seele baumeln lassen konnte. Ich fand ihn am Neuhaus, in der Nähe des Campings. Jedes Wochenende kam ich hierher und verbrachte den Nachmittag mit einem Buch auf einer Parkbank. Ich bin schon immer eine «Berglerin» gewesen, meine Seele fühlt sich in den Bergen daheim.
2022 war Ihr erstes Geschäftsjahr als CEO der Spitäler fmi AG. Wie fällt Ihre Bilanz aus?
Ich ziehe eine positive Bilanz. Überall, an allen unseren Standorten, habe ich engagierte Teams angetroffen, die offen sind für Neues, innovationsfreudig und etwas Neues ausprobieren wollen. Diese Offenheit und Dynamik freut mich, denn ich habe im Laufe meiner Karriere verschiedene Gesundheitseinrichtungen kennen gelernt, die teilweise starre Strukturen aufwiesen und für Neuerungen kaum Platz liessen. Bereits nach vier Tagen hier in Interlaken dachte ich: Wow, dieser fortschrittliche Groove – da gehöre ich hin!
Worauf führen Sie die Offenheit und das starke Interesse der Mitarbeitenden an Neuem zurück?
Das liegt an der Kultur, die in diesem Unternehmen seit vielen Jahren gelebt wird. Die Mitarbeitenden haben Freiräume, und sie haben diese nutzen gelernt. Die Unternehmensleitung hat zugelassen, dass Ideen an der Basis entstehen und sich daraus Neuerungen und damit auch Verbesserungen entwickeln können. Diese Kultur unterscheidet uns von anderen Betrieben, insbesondere im Gesundheitswesen. Es ist eine Kultur, die ich fortführen und pflegen will, weil es meine Werte sind.
Welches waren die grössten Herausforderungen und wie sind Sie Ihnen begegnet?
Die grösste Herausforderung war der Personalmangel. Wir wurden, wie andere Spitäler auch, im Frühling 2022 mit einer eigentlichen Kündigungswelle konfrontiert. Viele Mitarbeitende waren nach zwei Jahren Dauereinsatz wegen der Coronapandemie müde und brauchten eine Pause. Hinzu kam, dass wir im Vergleich zu früheren Jahren kaum saisonale Schwankungen bei den Patientenzahlen hatten. Normalerweise weisen wir bei den Fällen im Winter und im Sommer eigentliche Spitzen auf, aber letztes Jahr war unsere Auslastung durchgehend hoch. Auch deshalb hat der Fachkräftemangel unsere Betriebe stark belastet.
Wir haben in der Folge gezielt Betten stillgelegt und die Kapazitäten der Operationssäle reduziert. Im Unterschied zu anderen Spitälern haben wir jedoch «eng navigiert» und zweimal wöchentlich anhand der Fälle oder des verfügbaren Personals festgelegt, wo wir die Kapazitäten herabsetzen und wo wieder hochfahren.
Daniela Wiest fühlt sich im Berner Oberland zu Hause. Sie setzt sich für eine langfristig gesamtheitliche Gesundheitsstrategie für die Region ein.
Sie haben es erwähnt: Auch die Spitäler fmi AG ist nicht vom Fachkräftemangel verschont geblieben. In welchen Berufsgruppen haben Sie die grössten Lücken?
Gut ausgebildetes Personal ist in fast allen Bereichen schwierig zu finden. Spitäler haben heute hochkomplexe und spezifische Abläufe. Das erfordert entsprechend qualifizierte Mitarbeitende – nicht nur auf medizinischem Gebiet. Nehmen wir zum Beispiel die Patientenadministration. Das Personal muss über ein enormes Fachwissen verfügen in Sachen Tarifierungen, Abrechnungen, Korrespondenz mit ausländischen Versicherungen usw. Dafür die passenden Leute zu finden, ist ebenso schwierig wie in der Pflege oder bei den Ärztinnen und Ärzten.
Ein anderes Beispiel ist der technische Dienst. Wir haben nicht einfach Hauswarte hier, sondern Spezialistinnen und Spezialisten, die bei einem Wasserrohrbruch oder einem Stromausfall rasch und richtig zu handeln in der Lage sein müssen. Wenn die Lüftung in einem Operationssaal nicht mehr funktioniert, muss der technische Dienst das Problem so schnell als möglich beheben können, denn ohne Lüftung finden keine Operationen statt.
Deshalb ist «Kerngeschäft» mein persönliches Unwort des Jahres. Unter Kerngeschäft eines Spitals verstehen alle die «weissgewandeten» Berufe in der Medizin, die angeblich wichtigsten Personengruppen. Wir brauchen aber jede einzelne Person in jedem einzelnen Beruf, damit unser Betrieb gut funktionieren kann.
Die Zahl der Behandlungen hat letztes Jahr zugenommen, der Personalbestand ist gesunken. Wie lange kann diese Entwicklung noch gutgehen?
Einen kurzen Sprint kann fast jeder Mensch hinlegen, einen Dauerlauf in diesem Tempo hingegen nicht. Das ist auch bei einem Betrieb nicht anders. Es braucht bei uns mittelfristig eine Korrektur. Wir müssen die Zahl der Behandlungen und die personellen Kapazitäten irgendwie ins Gleichgewicht bringen.
Ansonsten können wir steigende Fallzahlen nur bewältigen, wenn wir bei den Leistungen gewisse Kürzungen vornehmen. Eine Pflegefachperson kann sich dann z.B. nicht mehr die Zeit nehmen, um sich die persönlichen Sorgen einer Patientin anzuhören. Diese Entwicklung belastet unser Personal, denn die Pflege will ja für die Patientinnen und Patienten da sein und sie möglichst gut betreuen. Das geht über die reine Pflegebetreuung hinaus und beinhaltet auch mal ein einfühlsames Gespräch von Mensch zu Mensch ohne Zeitdruck.
Was muss passieren, damit das Personal wieder mehr Zeit hat für die Patientinnen und Patienten?
Uns würde helfen, wenn nicht jede Versicherung eigene Bedingungen an die Spitäler stellt. Unfallfragebogen sehen bei jeder Versicherung anders aus. Hier wäre eine Standardisierung dringend nötig und würde unser Personal von administrativen Aufgaben oder Detailabklärungen entlasten, die den Patientinnen und Patienten keinen Nutzen bringen. Als Spital müssen wir dafür sorgen, dass unsere Prozessstrukturen und Arbeitsvorgänge möglichst schlank und einfach sind, wir Doppelspurigkeiten vermeiden und die Digitalisierung optimal nutzen.
Sie haben letztes Jahr mit dem Chalet Stampach und der Praxis Bälliz zwei Betriebe aufgegeben. Folgen in den nächsten Jahren weitere Schliessungen?
Nein. Das Chalet Stampach haben wir wegen Personalmangels, ungenügender Belegung und einer veralteten Infrastruktur schliessen müssen. Bei der Praxis Bälliz in Reichenbach konnten wir mit den uns zur Verfügung stehenden Ärzten keine ausreichenden Öffnungszeiten gewährleisten. Eine Praxis, die nur zwei Tage die Woche offen hat, genügt den Anforderungen, wie sie die Bevölkerung zurecht an eine Hausarztpraxis stellt, ganz klar nicht. Glücklicherweise haben wir sowohl für die Bewohnerinnen und Bewohner des Chalets Stampach als auch die Patientinnen und Patienten der Praxis Bälliz externe Ersatzlösungen gefunden.
Weitere Standorte stehen nicht zur Diskussion. Es braucht alle, damit wir das Volumen an Patientinnen und Patienten im Berner Oberland überhaupt betreuen können. Unabhängig davon machen wir uns Gedanken, wie wir uns als Gesundheitsdienstleisterin weiterentwickeln müssen und welche Angebote es wo braucht. Unter anderem überlegen wir uns gemeinsam mit den anderen Dienstleistungsanbietern, wie wir langfristig eine gesamtheitliche Gesundheitsstrategie für das Berner Oberland entwickeln und die Versorgung der Bevölkerung mit den erforderlichen Dienstleistungen sicherstellen können.
Wagen Sie einen Ausblick: Wie sieht die Spitäler fmi AG in zehn Jahren aus?
Die Spitäler fmi AG wird auch in zehn Jahren mit den heutigen Standorten bestehen und noch vernetzter sein im Berner Oberland als heute schon. Wir werden wohl mehr Leistungen ambulant und weniger stationär erbringen. Das wird sicherlich gewisse Anpassungen an den Strukturen erfordern, aber solche Veränderungen waren auch in der Vergangenheit immer wieder notwendig. Wir werden auch in den kommenden Jahren die wohnortsnahe integrierte Versorgung weiter entwickeln, so wie es der Unternehmensstrategie der Spitäler fmi AG seit ihrem Bestehen entspricht.
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