Wann der Hausarztnotfall die richtige Wahl ist
Text: Daniel Göring, Fotos: Louis Pasquier
Der Patientin geht es schlecht. Sie steht am Empfang und klagt über krampfartige Bauchschmerzen und anhaltenden Durchfall. Die Beschwerden sind so heftig, dass sie sich kaum noch aufrecht halten kann. Flüssigkeit verliert die Frau im Nu wieder, Essen verträgt sie überhaupt nicht mehr. Jeanine Reber führt die Patientin sofort ins Behandlungszimmer, wo sie sich hinlegen kann. Dann misst die medizinische Praxisassistentin Puls und Blutdruck der Frau. Um ihr Flüssigkeit zuzuführen, legt sie der Patientin nach Rücksprache mit Arzt Thomas Michel eine Infusion aus Kochsalzlösung.
Wenige Minuten später steht Thomas Michel neben der Patientin. Er hat zusammen mit Jeanine Reber an diesem Abend Dienst im Hausarztnotfall Region Interlaken (HANI). Die Frau erzählt dem Mediziner, dass sie vor zwei Tagen Fondue Chinoise mit Pouletstreifen gegessen hat. Für ihn ist sogleich klar: Das Fleisch war nicht heiss genug erhitzt, Bakterien konnten sich im Organismus der Frau an ihr übles Werk machen. Eine Blutprobe bestätigt die vermuteten hohen Entzündungswerte und den Wassermangel. Nach über einer Stunde schickt der Arzt die Patientin mit Schmerzmitteln und dem Auftrag nach Hause, in kleinen Schlucken zu trinken, um ihren Körper so mit der nötigen Flüssigkeit zu versorgen. Am nächsten Tag soll sie sich zur Kontrolle bei ihrem Hausarzt melden. Wenn alles gut läuft, wird die Frau in zwei, drei Tagen wieder bei Kräften sein.
Dr. med. Michel findet schon bald die Ursache für die Beschwerden der Patientin - das Pouletfleisch beim Fondue Chinoise war wohl nicht heiss genug erhitzt, Bakterien nahmen ihr übles Werk im Organismus auf.
2500 Fälle jährlich
Fälle wie dieser sind Alltag auf dem HANI, wie Thomas Michel und Jeanine Reber in einem Gespräch kurz vor Antritt ihrer Schicht erläutern. Da Fondue Chinoise seit Jahren zu den beliebtesten Festtagsmenüs zähle, würden sich in der Advents- und Weihnachtszeit mehr Menschen mit Magen-Darm-Beschwerden melden, ergänzt Michel, der auch in der Geschäftsleitung des HANI sitzt. Weitere regelmässige Krankheitsbilder auf dem Hausarztnotfall sind nach seinen Angaben grippale Infekte, Lungenentzündungen, Rückenschmerzen, Blaseninfektionen, psychische Belastungen sowie Verstauchungen und Prellungen nach Stürzen oder Unfällen.
«Wir behandeln alle Fälle, die wir auch tagsüber in unseren Praxen betreuen.»
An die 2500 Behandlungen führen die Hausärztinnen und Hausärzte gemäss Michel pro Jahr auf dem HANI durch. Eine beachtliche Zahl eingedenk des Umstandes, dass der Hausarztnotfall seine Türen nur offen hat, wenn die ärztlichen Praxen in der Region geschlossen sind: nach Feierabend sowie an Wochenenden und Feiertagen (s. auch Kasten). Der HANI ist quasi eine Hausarztpraxis mit verlängerten Öffnungszeiten, und er funktioniert auch wie eine Hausarztpraxis: «Wir behandeln alle Fälle, die wir auch tagsüber in unseren Praxen betreuen», erklärt Thomas Michel.
Abwechslung in Praxisalltag
Für die Koordination des HANI ist eine medizinische Praxisassistentin zuständig. Sie befragt Patientinnen und Patienten nach ihrem Zustand, entscheidet anhand des Krankheitsbildes über die Reihenfolge der Behandlungen, misst wichtige Parameter wie Blutdruck, Puls und Temperatur. Zudem erledigt sie die administrativen Arbeiten, sorgt dafür, dass die medizinischen Geräte funktionieren und bestellt den Nachschub an Medikamenten und Material. Ein anspruchsvoller Job, der ihr auch nach Jahren noch immer Spass mache, betont Jeanine Reber. Thomas Michel unterstreicht die Bedeutung der Aufgabe: «Eigentlich betreibt die Praxisassistentin den Notfall» hält er anerkennend in ihre Richtung blickend fest.
Jeanine Reber nimmt als Praxisassistentin eine zentrale Funktion im Hausärztenotfall ein. Zu ihren Aufgaben gehören auch Laborauswertungen.
Persönlich mag der Arzt den Notfalldienst, den er in der Regel alle zwei Wochen versieht: «Der Einsatz hier bringt Abwechslung in meinen Praxisalltag und ich werde durch die verschiedenen Krankheits- und Unfallbilder gefordert.» Zudem zeigten sich Patientinnen und Patienten oft dankbar, wenn er ihnen in einer Notlage habe helfen können. Und das gibt auch einem erfahrenen Arzt wie ihm immer wieder ein Gefühl von Befriedigung.
Austausch mit Spital klappt
Es gibt allerdings Notfälle, die beim Hausarzt nicht an der richtigen Adresse sind. Benötigen Patientinnen und Patienten eine intensivere Behandlung wie etwa bei einem Herzinfarkt oder nach einem mehrfachen Beinbruch, weist der diensthabende Arzt sie an den Notfall des Spitals Interlaken weiter, wie Michel erklärt. Umgekehrt würden die Ärzte des Spital-Notfalls Patientinnen und Patienten mit leichteren Beschwerden in den HANI schicken. Vereinfacht wird dieser Austausch durch den Umstand, dass sich die Räume des Hausarztnotfalls direkt im Spital befinden.
Nicht nur der Nähe wegen, auch sonst spricht Thomas Michel von einer vorbildlichen Kooperation mit dem Spital: «Der Austausch von Patientinnen und Patienten klappt ebenso reibungslos wie die Zusammenarbeit unter den Fachleuten». Er erwähnt, dass ärztliche Personen des HANI und des Spitals auch mal ihre Expertise teilen würden, etwa wenn es um die Interpretation eines Röntgenbildes gehe. Der ärztliche Direktor der Spitäler fmi AG, Gregor Siegel, sekundiert seinen Kollegen und hält fest, dass der HANI nachhaltig dazu beitrage, den Notfall des Spitals zu entlasten: «Aufgrund der schlanken Prozesse ist der HANI eine wichtige Ergänzung zum Alpinen Notfallzentrum. Hier können die Patienten mit leichteren Erkrankungen oder Verletzungen rasch versorgt werden und das Alpine Notfallzentrum kann seine Behandlungskapazitäten für die schwereren Fälle freihalten.»
Zuerst anrufen
Und wie können Patientinnen und Patienten entscheiden, ob sie in den Hausarztnotfall gehen oder den Spital-Notfall aufsuchen sollen? Thomas Michel hat einen einfachen Tipp: «Wenn Sie den Eindruck haben, dass Sie mit Ihren Beschwerden nach der Behandlung wieder nach Hause können, dann sind Sie vermutlich beim HANI richtig.» Auf jeden Fall rät er Patientinnen und Patienten, sich wenn immer möglich über die Notfalltelefonnummer von Medphone (0900 57 67 47) anzumelden. So sei eine erste Triage möglich und die medizinische Praxisassistentin könne den Betrieb besser planen. Jeanine Reber nickt, sie hat dem Gesagten nichts beizufügen.
Hausarztnotfall Region Interlaken
Der Hausarztnotfall Region Interlaken (HANI) besteht seit 2016. Trägerschaft sind rund zwei Dutzend Hausärztinnen und Hausärzte aus der Region sowie die Spitäler fmi AG. Der Standort des HANI befindet sich im Spital Interlaken, Haus E0 West im Parterre, und ist via den Haupteingang erreichbar. Geöffnet ist der Hausarztnotfall werktags am Abend und an Wochenenden sowie Feiertagen nachmittags. Tagsüber steht für Notfälle neben den Hausarztpraxen auch die Walk-in-Clinic beim Bahnhof Interlaken West zur Verfügung. Weitere Informationen unter www.han-i.ch und www.walk-in-clinic.ch.
Zu den Personen
Dr. med. Thomas Michel ist Arzt für Allgemeine Innere Medizin und arbeitet zusammen mit seiner Ehefrau, die ebenfalls Ärztin ist, in der Hausarztpraxis Wilderswil und in der Jungfraupraxis in Interlaken. Der 62-Jährige wohnt in Unterseen und ist Vater einer erwachsenen Tochter. In seiner Freizeit fährt er gerne Ski und unternimmt Skitouren. Er geht regelmässig mit seinem Golden Retriever spazieren und mag klassische Konzerte. Thomas Michel engagiert sich in seinen Praxen stark in der Ausbildung von angehenden Ärztinnen und Ärzten sowie Praxisassistentinnen.
Jeanine Reber ist 38-jährig und medizinische Praxisassistentin. Die verheiratete Mutter von zwei Kindern wohnt in Unterseen und ist passionierte Schützin auf der 300-Meter-Distanz. Zudem besucht sie mit Vorliebe Konzerte von Mundart-Musikerinnen und Musikern. Zu ihren Favoriten gehören der Berner Gölä und der Luzerner Kunz.
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