«Der Mensch muss wie Bambus mit dem Leben schwingen können»
Text: Daniel Göring, Fotos: Louis Pasquier
Immer mehr Fachleute schlagen Alarm und sprechen von einer Versorgungskrise in der Psychiatrie. Wie sieht die Lage im Berner Oberland aus? Sind Sie im Spital Interlaken auch alarmiert?
Die Situation ist herausfordernd. Wir haben einen Versorgungsauftrag für die Region, das heisst, wenn sich jemand mit einem psychischen Leiden bei uns meldet, können wir die Person nicht an eine andere Stelle weiterweisen, sondern müssen sie annehmen. Zudem gibt es im Gegensatz zu den Städten wie Bern oder Thun in der Region nur wenige psychiatrische oder psychotherapeutische Praxen. Wir sind hier gewissermassen «Alleinversorger». Wir müssen uns immer wieder überlegen, wie wir mit den begrenzten personellen Ressourcen die Region angemessen versorgen können. Da braucht es auch mal unkonventionelle Lösungen.
Haben Sie ein Beispiel dafür?
Wir haben ein Modell aus Finnland importiert. Es nennt sich «Open Dialogue» und greift sehr früh. Wir gehen zum Patienten oder zur Patientin nach Hause und stärken gezielt die Familie, denn sie ist es, die rund um die Uhr mit der betroffenen Person zusammenlebt. Wenn es gelingt, die Familie zu festigen, kann dies dazu führen, dass sich die Situation einer betroffenen Person bald stabilisiert. So lässt sich auf einfache Weise ein grosser Effekt erzielen.
Thomas Ihde und sein Team der Psychiatrie Spitäler fmi AG brauchen auch unkonventionelle Lösungen, um mit den knappen Ressourcen die Region angemessen versorgen können.
Was sind die Gründe für den starken Anstieg der psychischen Behandlungen?
Es gibt mehrere Gründe. Zuerst ein positiver: Die Stigmatisierung von psychischen Erkrankungen in unserer Gesellschaft hat abgenommen, die Menschen und insbesondere die Jungen reden heute offener über psychische Belastungen. Dann melden sich die Leute heute früher bei uns, wenn sie psychische Probleme haben. Das ist erfreulich.
Zudem hat sich die Welt verändert. Unsere psychischen Funktionen sind im Alltag wichtiger geworden. Wir kommunizieren häufiger, werden mit Reizen überflutet, müssen andauernd aussortieren, was unwichtig ist. Wir haben uns zu kommunikativen und kognitiven Spitzensportlern entwickelt. Die Folge ist, dass wir psychisch anfälliger geworden sind.
«Wir haben uns zu kommunikativen Spitzensportlern entwickelt.»
Heisst das, unsere Gesellschaft ist psychisch kränker als früher?
Nein, das würde ich nicht sagen. Wenn jemand anfängt, Marathon zu laufen, wird die Person fast zwangsläufig mehr Muskel- und Gelenkschmerzen haben. Oder sich bei einem Misstritt das Bein verstauchen. Gleich verhält es sich mit unserer Psyche. Die Belastungssymptome sind eine Reaktion auf die veränderten Anforderungen, mit denen wir fortwährend konfrontiert sind. Die heutige Zeit zeichnet sich dadurch aus, dass der Mensch wie Bambus sein soll: Er muss mit den Wogen des Lebens mitschwingen können. Bisweilen kann dies dazu führen, dass der eine oder die andere zu hart schwingt und psychisch aus dem Gleichgewicht gerät.
Welche Fälle haben hauptsächlich zugenommen?
Wir verzeichnen eine starke Zunahme an Behandlungen von Menschen über 65 und vor allem auch über 80 Jahre. Dabei geht es mehrheitlich um Altersdepressionen und Abklärungen wegen Vergesslichkeit respektive Demenz. Vor 15 Jahren hatten wir noch viel weniger Personen, die wegen einer Altersdepression zu uns kamen. In einer Bergregion wie der unsrigen meldeten sich die Menschen damals seltener bei einem Psychiater, als dies im Unterland der Fall war. Eine grosse Veränderung sehen wir auch bei den jungen Erwachsenen, die durch Schulübergänge und den Wechsel von der Schule in die Berufswelt stärker gefordert sind.
Wie haben Sie in Interlaken auf die explodierte Nachfrage nach psychischen Behandlungen reagiert?
Wir haben unser Angebot massiv ausgebaut. Heute sind wir zehnmal grösser als noch vor 15 Jahren. Teilweise hat der Anstieg aber damit zu tun, dass wir in Interlaken einen Nachholbedarf gegenüber den anderen Regionalspitälern in Thun, Burgdorf oder Langenthal hatten. Bei uns im ländlichen Raum kommt hinzu, dass die Rekrutierung von Ärztinnen und Ärzten sowie Therapeutinnen und Therapeuten nicht einfach ist.
Wir mussten uns deshalb überlegen, wie wir die vorhandenen Talente nutzen können, um die Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten. Wir haben als eine der ersten Institutionen stark auf eine interdisziplinäre Zusammenarbeit gesetzt. Heute ist der Einbezug von Fachleuten aus verschiedenen medizinischen, therapeutischen und sozialen Bereichen unsere absolute Stärke. Dadurch lässt sich die Last auf mehrere Schultern verteilen.
«Vieles von dem, was wir heute in der Psychiatrie tun, wird in 40 Jahren Teil der Grundversorgung sein.»
Wenn die Kalender der Fachleute überquellen, bleibt weniger Zeit für die Patientinnen und Patienten. Darunter leidet doch die Qualität der Behandlungen?
Es ist leider eine Realität, dass wir nicht über die notwendigen personellen Ressourcen verfügen, um die Behandlungen so anbieten zu können, wie die jeweiligen Fachgesellschaften es vorschlagen. Um dem Mangel entgegenzuwirken, arbeiten wir unter anderem mit einem Modell der Weltgesundheitsorganisation. Anstatt einer klassischen Behandlung, bei der ich versuche, die Krankheitszeichen mit Therapie und Medikamenten anzugehen, schaue ich, wie sich die Selbstwirksamkeit maximal aktivieren lässt. Die Patientinnen und Patienten lernen so, möglichst gut mit ihren Symptomen umzugehen.
Die Prävention gewinnt in der Medizin immer mehr an Bedeutung. Wie fördern Sie die Prävention?
Wir legen seit Jahren grosses Gewicht auf die Prävention. In den Schulen begannen wir vor 15 Jahren mit Projekten, um die Jugendlichen zu sensibilisieren. Wir führen auch regelmässig Anlässe für Arbeitgebende durch und bieten in der Region psychische Nothelferkurse an. Künftig wollen wir einen Schritt weitergehen und einen Schwerpunkt darauflegen, soziale Partner zu befähigen, die Menschen psychisch gut zu begleiten. Ich denke etwa an Mitarbeitende von Arbeitsvermittlungszentren, Junioren-Fussballtrainer usw.
Für das psychische Wohlbefinden empfiehlt Thomas Ihde den Ausgleich in der Natur, echte und tiefgehende Beziehungen sowie mehr Zeit für Erholung, um die Batterien wieder richtig laden zu können.
Wagen Sie einen Ausblick: Wie wird die Psychiatrie in 40 Jahren aussehen?
Vieles von dem, was wir in der Psychiatrie heute tun, wird in 40 Jahren Teil der sozialen und gesundheitlichen Grundversorgung sein. Bei den Hausärztinnen und Hausärzten machen die psychischen Themen bereits heute 40 Prozent der Behandlungen aus. Es wird künftig Spezialistinnen und Spezialisten für psychische Grundversorgung im sozialen Bereich, im Bildungs- und im Gesundheitswesen geben.
Kommen wir zum Menschen selbst: Wie kann ich meiner eigenen Psyche Gutes zu tun?
Auf vielfältige Weise. Sie können zum Beispiel den Ausgleich in der Natur suchen und vor allem Beziehungen pflegen. Sie sind es, die uns psychisch gesund erhalten. Gerade in der heutigen Zeit, in der wir alle enorm viel kommunizieren – aber nur kurz und knapp – sind echte Beziehungen und tiefgehende Begegnungen noch wichtiger geworden. Wir müssen uns aber auch mehr Zeit zur Erholung nehmen, um die Batterien wieder richtig laden zu können.
Und was tut Thomas Ihde, um sich psychisch in der Balance zu halten?
Auch ganz viel! Ich leite jedes Jahr ein Wüstentrekking. Es macht viel Freude, anderen Menschen etwas Wunderschönes zu zeigen, doch ich unternehme die Trekkings auch für mich selbst. Einmal jährlich eine geschützte Zeit haben, in der Wüste bei mir sein – das ist meine effizienteste Art, um aufzutanken. Ich schaffe mir aber auch das Jahr hindurch immer wieder meine persönlichen Inseln, marschiere regelmässig auf den Harder oder gehe im Winter im Thunersee schwimmen. Und gute Freundschaften zu pflegen, ist mir enorm wichtig.
Zur Person
Dr. med Thomas Ihde ist geschäftsführender Chefarzt und leitet seit 2007 die Psychiatrie der Spitäler fmi AG. Er ist verheiratet, Vater eines 20-jährigen Sohnes und wohnt abwechselnd in Interlaken und in der Nähe von Edinburgh. Zur Psychiatrie fand er durch eine Arbeit, die er als Student der Kunstgeschichte über Künstler mit psychischen Problemen schrieb. Nebenberuflich ist Ihde Präsident der Stiftung Pro Mente Sana, die sich für die psychische Gesundheit in der Schweiz einsetzt.
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