Die «wandelnde Hoffnungsträgerin»
Text: Daniel Göring, Fotos: Louis Pasquier
Es ist ein lauer Frühlingsmorgen, die Sonne taucht die Berggipfel südlich von Interlaken in ein goldenes Licht. Heike Wismer hat im Halbschatten auf der Terrasse der PsychiatrieStation Platz genommen, im Hintergrund bimmeln Glocken der weidenden Kühe. Eine beschauliche Atmosphäre. «Was damals geschah, ist das Beste, was mir passieren konnte», sagt Heike Wismer in die Ruhe des Moments hinein.
Die gestandene Frau spricht von einem der dunkelsten Tage in ihrem Leben. Ihre Psyche war kollabiert. Unter der Last der Depression, hervorgerufen durch eine Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung, kurz AHDS. Im Sommer 2020 kam sie auf die PsychiatrieStation des Spitals Interlaken. «Ich war ganz unten und wusste, dass es so nicht weitergehen konnte.» Sie musste sich im Leben neu ausrichten, hatte aber keine Ahnung wie.
Der schnelle Plan lässt sich nur langsam verwirklichen
Das änderte sich bald. Sie lernte eine Genesungsbegleiterin kennen, eine sogenannte Peer. Heike Wismer hatte noch nie von der Berufsbezeichnung gehört und begann die Frau mit Fragen zu löchern, wollte alles von ihr wissen. «Bei mir hatte es Klick gemacht. Ich spürte, das ist es, was ich will.» Eine Rückkehr in ihren hektischen Job, an die Kasse einer Grosshandelsfirma, konnte sich Heike Wismer nicht mehr vorstellen. «Die Arbeit als Genesungsbegleiterin erschien mir wie ein Lichtstreifen am Horizont. Ich sah die Chance, mit 60 Jahren nochmals etwas Neues anzufangen.»
«Die Arbeit als Genesungsbegleiterin erschien mir wie ein Lichtstreifen am Horizont.»
So schnell, wie der Plan gefasst war, liess er sich aber nicht verwirklichen. Voller Tatendrang aus der PsychiatrieStation nach Hause zurückgekehrt, begann Heike Wismer, das Internet zu durchforsten. Informationen über die Aufgaben von Peers fand sie seitenweise, einen Ausbildungsplatz hingegen nicht. «Es wollte einfach keine Türe aufgehen.» Aufgeben kam für die resolute Frau aber nicht in Frage. Zu stark war ihr Wille nach der beruflichen Veränderung.
Ein Dreivierteljahr später öffnete sich das Tor fast wie von selbst. Heike Wismer stiess auf einen Lehrgang einer Organisation auf der deutschen Seite des Bodensees. Er dauerte zwölf Monate und beinhaltete zwei mehrwöchige Praktika. Den zweiten Einsatz konnte sie auf der PsychiatrieStation in Interlaken absolvieren. Mit glänzenden Augen erinnert sie sich daran, wie ihr eines Morgens eine Pflegefachfrau die entscheidende Frage stellte: «Willst du nicht bei uns bleiben?» Noch vor Ende des Praktikums hatte Heike Wismer den Arbeitsvertrag im Sack, und am 1. Februar 2023 hat sie ihren Job als Peer mit einem Pensum von 50 Prozent angetreten.
Ein offenes Ohr haben
Ihren Arbeitstag erlebt Heike Wismer als vielfältig und bereichernd. Sie leitet eine Recoverygruppe, in der Patientinnen und Patienten über alles reden können, von Hoffnungen bis zu Herausforderungen, von Urlauben bis zu Unsicherheiten. Zudem betreut sie die Backgruppe, geht mit den Patientinnen und Patienten die Zutaten einkaufen und steht ihnen zur Seite, damit Brötchen und Guetzli am Schluss munden.
Daneben ist Heike Wismer regelmässig im Haus unterwegs, sucht den Kontakt zu Patientinnen und Patienten, ist offen für Gespräche oder hört einfach mal zu. «Ich will für die Leute da sein.» Sie beschreibt sich denn auch als «wandelnde Hoffnungsträgerin», die Mut macht, Anteil nimmt und vor allem versteht. «Ich weiss, wovon die Patientinnen und Patienten reden. Sie müssen mir nicht gross erklären, wie es ihnen gerade geht.»
Reden entlastet uns Menschen, besonders wenn uns psychische Belastungen drücken. Doch manchmal braucht es nicht einmal Worte, um etwas zu bewirken. Heike Wismer erzählt von der Begegnung mit einer Patientin. Sie sass wie jetzt auf der Terrasse der PsychiatrieStation, als die Frau zu ihr hintrat und sagte: «Schön, dass Sie da sind.» Die Genesungsbegleiterin fragte sie verdutzt, warum dem so sei. Ihre Antwort spricht Bände. «Sie geben mir Hoffnung. Ich sehe, dass ein Leben nach der psychischen Erkrankung auf mich wartet.»
Genesungsbegleitung
Genesungsbegleiterinnen und -begleiter (auch Peers genannt) sind Menschen, die eine psychische Erkrankung durchgemacht haben und mit ihren Erfahrungen andere psychisch Kranke im Gesundungsprozess unterstützen. In der Ausbildung lernen sie, gestützt auf ihre Erlebnisse und Ressourcen mit Einzelpersonen und Gruppen zu arbeiten oder ihre Fähigkeiten bei der Organisationsentwicklung, in die Forschung oder die Aus- und Weiterbildung einzubringen. Die Ausbildung beinhaltet mehrere Tage dauernde Module und auch Praktika. Voraussetzung für eine Tätigkeit als Genesungsbegleiterin oder -begleiter ist neben der Ausbildung eine angemessene psychische Stabilität.
Zur Person
Heike Wismer ist 62-jährig und verwitwet, hat zwei erwachsene Söhne und ein Enkelkind, das sie regelmässig hütet. Die Familie ist ihr eine wichtige Stütze im Leben. Sie wohnt in Schwanden bei Brienz. In Ihrer Freizeit wandert sie gerne und widmet sich verschiedenen Handarbeiten. Im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit als Genesungsbegleiterin nimmt Heike Wismer regelmässig an Online-Peer-Stammtischen in der Schweiz und Deutschland teil.
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