Sie schenkt unheilbar Kranken Lebensqualität
Text: Daniel Göring, Fotos: Sandro Hügli
Jolanda Gisler (Name geändert) hat Mühe zu sprechen. Sie redet langsam, in einem näselnden Tonfall, darum bemüht, die Worte so deutlich wie möglich zu sagen. Die 75-Jährige leidet an Mundhöhlenkrebs. In jüngster Zeit ist der Tumor stark gewachsen und hat immer mehr Beschwerden verursacht. Seit kurzem kann Jolanda Gisler weder richtig essen noch trinken und auch das Schlucken bereitet ihr Probleme.
Der Onkologe erklärte ihr bei der letzten Untersuchung, dass die Behandlung nicht mehr anschlage, der Tumor unkontrollierbar geworden sei. Vor ein paar Tagen hat die Patientin, die abgesehen von ihrer Krankheit noch selbständig im Leben steht, im Spital Interlaken eine Magensonde eingesetzt erhalten. Über diese kann sie sich selbst künstlich ernähren.
Regula Seiler an ihrem Arbeitsplatz im Spital Interlaken. Sie leitet und koordiniert den mobilen Palliativedienst der Spitäler fmi AG und ist Schnittstelle zum multiprofessionellen Behandlungsteam.
Hunger und Durst sind weg
Es ist ein regnerischer Vormittag, Jolanda Gisler sitzt daheim an ihrem Wohnzimmertisch. Ihr gegenüber hat Regula Seiler Platz genommen. Sie leitet den mobilen Palliativdienst der Spitäler fmi AG und will sich einen Eindruck verschaffen, wie die Patientin mit der neuen Situation zu Hause zurechtkommt. Mehr als die künstliche Ernährung macht ihr etwas anderes zu schaffen: «Das Schlimmste ist, dass mich die Leute fast nicht mehr verstehen», erklärt Jolanda Gisler mit wässrigen Augen.
Regula Seiler nickt mitfühlend und wechselt dann behutsam das Thema: «Spüren Sie eine Wirkung der künstlichen Ernährung?» will sie von der Patientin wissen. «Nicht gross, ausser dass ich keinen Hunger und auch keinen Durst mehr habe», gibt Jolanda Gisler zur Antwort. «Wunderbar», reagiert Regula Seiler, «damit haben wir ein erstes Ziel erreicht, denn es ist wichtig für Ihren Körper, dass Sie weder Durst noch Hunger empfinden.»
«Ich kann nicht zaubern und eine Person heilen. Aber ich kann ihr in der letzten Lebensphase Gutes tun.»
Die Patientin mag nicht so recht in die frohe Botschaft einstimmen. «Nun muss ich also den Rest meines Lebens mit diesem einen Menü klarkommen». Der Klang ihrer Worte macht deutlich, wie schwer sie sich damit tut, nicht mehr essen und trinken zu können. Symbolhafter Ausdruck davon ist die mit Äpfeln und Orangen gefüllte Schale, die auf dem Stubentisch steht. Regula Seiler versucht Jolanda Gisler zu beruhigen: «Es braucht etwas Zeit, bis Sie sich an die künstliche Ernährung gewöhnt haben.»
Für Hausbesuche in der näheren Umgebung von Unterseen/Interlaken ist Regula Seiler meistens mit dem Fahrrad unterwegs.
Wichtige Schnittstelle
«Wir wollen Menschen mit einer unheilbaren Krankheit Lebensqualität geben und ihre körperlichen, aber auch psychischen Symptome erträglich machen», fasst Regula Seiler im Gespräch das Ziel des mobilen Palliativdienstes zusammen. Das dreiköpfige Team betreut Patientinnen und Patienten aus dem östlichen Berner Oberland vorwiegend zu Hause oder in einem Pflegeheim, bei Bedarf aber auch im Spital. Seine Aufgabe sei es, Vertreterinnen und Vertretern der medizinischen Grundversorgung wie Pflegenden sowie Ärztinnen und Ärzten das Fachwissen im Umgang mit unheilbar kranken Personen zu vermitteln, erklärt Regula Seiler. Dabei handelt es sich insbesondere um spezielle Bedürfnisse der betroffenen Menschen, aber auch spezifische Ausprägungen von Krankheitsbildern und Symptomen.
Zudem koordiniert der Dienst die verschiedenen unterstützenden Leistungen für die Patientinnen und Patienten, von der Spitex über die Medikamentenversorgung bis zu Arztbesuchen. Eine wichtige Tätigkeit bildet laut Regula Seiler auch der Austausch mit den Angehörigen, wobei es neben Fragen darum geht, sich ihrer Sorgen und Nöte anzunehmen. «Wir sind so etwas wie die Schnittstelle einer interdisziplinären Zusammenarbeit und ziehen bei Bedarf die erforderlichen Fachleute bei», umschreibt Regula Seiler die Funktion des mobilen Palliativdienstes.
All das mit dem Ziel, Hospitalisationen zu verhindern oder die Patientinnen und Patienten nach einem Spitalaufenthalt wieder in ihr häusliches Umfeld zurückbringen zu können. Denn die meisten schwerkranken Menschen fühlten sich daheim am wohlsten und wollten wenn immer möglich dorthin zurück.
Im Wohnzimmer bei Patientin Jolanda Gisler (Name geändert) erkundigt sich Regula Seiler über deren Befinden und bespricht mit ihr die bisherigen und bevorstehenden Behandlungsschritte.
Komplex und anspruchsvoll
Palliative Care sei im Vergleich zur herkömmlichen Pflege «komplexer, vielschichtiger und anspruchsvoller», ordnet Regula Seiler ihre Aufgabe ein. «Wir berücksichtigen bei unserer Arbeit zugleich körperliche, psychische, spirituelle und soziale Aspekte.» Ist sie also so etwas wie Pflegerin, Seelsorgerin und Sozialarbeiterin in Personalunion? Regula Seiler lacht: «Ich bin eigentlich nichts von alldem und gleichzeitig von allem etwas.» Es liege an ihr, im richtigen Moment die richtige Fachperson einzubeziehen und so sicherzustellen, dass eine Patientin oder ein Patienten adäquat betreut werde.
Und wie kommt sie damit klar, dass sie ihre Klientinnen und Klienten erst kennen lernt, wenn die medizinischen Möglichkeiten ausgeschöpft sind und diese Menschen über kurz oder lang sterben werden? «Ich kann nicht zaubern und eine Person heilen. Aber ich kann ihr in der letzten Lebensphase Gutes tun. Deshalb sehe ich in meiner Tätigkeit mega viel Sinn.» Eine Tätigkeit übrigens, der Regula Seiler schon lange treu ist, verfügt sie doch über mehr als 25 Jahre Erfahrung im Bereich Palliative Care.
Froh um Unterstützung
Zurück ins Wohnzimmer von Jolanda Gisler. Sie räumt ein, anfänglich Mühe gehabt zu haben, den Palliativdienst zu akzeptieren. «Ich dachte, jesses Gott, wenn die sich um mich kümmern wollen, dann steht es wirklich schlimm um mich.» In der Zwischenzeit hat sich das Blatt gewendet. «Ich bin froh um die Unterstützung von Frau Seiler. Sie hat alles organisiert, sogar einen Besuch beim Onkologen, damit ich mich von ihm verabschieden kann.» Bevor der Besucher einen falschen Schluss ziehen könnte, fügt sie trotzig hinzu: «Ich lasse mich nicht etwa fallen. Ich bin noch nicht bereit zu gehen.»
Palliative Care
Palliative Care beinhaltet die Behandlung und Betreuung von Menschen mit unheilbaren und chronischen Krankheiten. Sie lindert Schmerzen und beugt Leiden sowie Komplikationen vor. Zu Palliative Care gehören medizinische und pflegerische Dienstleistungen sowie psychologische, soziale und spirituelle Unterstützung. Bei der Spitäler fmi AG bilden Pflegefachpersonen sowie Ärztinnen und Ärzte mit besonderem Fachwissen in Palliative Care mit weiteren Berufsgruppen ein multiprofessionelles Behandlungsteam. Der mobile Palliativdienst ist ein Teilbereich der Palliative Care. Die Spitäler fmi AG engagiert sich im regionalen Palliativnetz Oberland Ost-Frutigland, einer Plattform für Akteurinnen und Akteuren sowie Institutionen rund um Palliative Care.
Zur Person
Regula Seiler leitet den dreiköpfigen mobilen Palliativdienst Oberland Ost-Frutigland, ein Angebot der Spitäler fmi AG. Sie ist Pflegefachfrau HF und Fachexpertin mit CAS Palliative Care. Regula Seiler wohnt in Unterseen, ist verheiratet und hat zwei Töchter. In ihrer Freizeit bewegt sie sich gerne und vielseitig, ohne dass eine bestimmte Sportart im Vordergrund steht. Sie liebt es, Kriminalromane zu lesen, bevorzugt jene der Berner Autorin Christine Brand, unter anderem, weil es in den Büchern immer wieder regionale Aspekte zu entdecken gibt.
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