Ein gebrochenes Bein und eine zerschnittene Socke
Text: Daniel Göring, Fotos: Louis Pasquier
Der Helikopter ist vor zwei Minuten auf dem Dach des Alpinen Notfallzentrums am Spital Interlaken gelandet. Franziska Hold und Florian Eicher nehmen den von einem Team der Rega eingelieferten Patienten in Empfang und bringen ihn in Koje 1. Der Mann aus Slowenien ist auf einer Piste des Skigebiets Grindelwald-First unglücklich gestürzt und hat sofort einen höllischen Schmerz im linken Unterschenkel verspürt. Während die Stationsleiterin Pflege dem Skifahrer eine Infusion legt und ein Schmerzmittel verabreicht, will der Assistenzarzt Chirurgie von ihm wissen, ob er noch sonst wo Beschwerden hat. Der Mann verneint, erklärt jedoch halb Englisch, halb Deutsch sprechend, dass er den Unterschenkel bereits vor einem Jahr gebrochen habe.
«Es tut mir leid, dass ich Ihre hübsche Socke habe zerschneiden müssen.»
Es folgt das für den Mittfünfziger unangenehmste Prozedere: den Fuss des lädierten Beins vom klobigen Skischuh befreien. Die erfahrene Pflegefachfrau Franziska Hold spritzt dem Patienten ein starkes Schmerzmittel und weist Florian Eicher an, den Unterschenkel zu stabilisieren, damit sie den Skischuh vorsichtig vom Fuss abstreifen kann. Der Patient verzieht das Gesicht vor Schmerz und atmet hörbar auf, als das Ganze nach kurzer Zeit überstanden ist. Um ihm nicht weiter weh zu tun, schneidet Franziska Hold die buntgescheckte Socke auf, desinfiziert den darunter zum Vorschein kommenden offenen Bruch und stillt die Blutung mit dicken Kompressen.
Der Patient aus Slowenien ist auf der Skipiste unglücklich gestürzt. Im Alpinen Notfallzentrum am Spital Interlaken ist er einer von mehr als 14'400 Personen aus aller Herren Länder, die hier medizinisch versorgt werden.
Sowohl dem Assistenzarzt als auch ihr ist klar: Das Bein des Mannes muss operiert werden. Zuvor soll ein Röntgenbild Aufschluss über das Ausmass der Fraktur geben. Franziska Hold verabschiedet sich vom Patienten mit einer bedauernden Aussage: «Es tut mir leid, dass ich die hübsche Socke habe zerschneiden müssen.» Der Mann ist ihr nicht gram, wie seine von einem leicht gequälten Lächeln begleitete Antwort zeigt: «No problem, es hätte schlimmer sein können.»
Überblick am Bildschirm
Im Flur wirft Franziska Hold einen Blick auf den unauffälligen Bildschirm an der Wand. Er zeigt eine geometrische Darstellung von Rechtecken. Sie bilden die Räume des Alpinen Notfallzentrums ab: zehn Behandlungskojen, fünf Plätze im Gang für einfachere Fälle, eine Isolationskoje und weitere Zimmer für Röntgen, Schockraumbehandlungen, Kleineingriffe, das Anlegen von Verbänden sowie das Gipsen von Brüchen. Wie die Figürchen in den Rechtecken zeigen, befinden sich neben dem Skifahrer aus Slowenien acht Personen in der Obhut des Notfallpersonals.
Der Skifahrer wird von Florian Eicher, Assistenzarzt Chirurgie, auf weitere Beschwerden angesprochen und untersucht. Der Patient erklärt sich halb Englisch, halb Deutsch.
Zu behandeln gibt es Patientinnen und Patienten nach einem Stromschlag, einem Kollaps, mit Bauchwassersucht (Aszites), akutem Bluthochdruck, Schulterluxationen und einem verdrehten Knie sowie ein Kind mit einer Schnittwunde am Kinn. Für die Stationsleiterin Notfallpflege ist die Situation an diesem grauen Nachmittag Ende Januar «überschaubar». Ihre Erläuterungen sind ruhig und abgeklärt, es braucht offensichtlich mehr Betrieb, um sie angespannt zu sehen. Solche Tage erlebt das Personal im Spital Interlaken regelmässig: «Bei schönem Wetter und grösseren Anlässen in der Region wie zum Beispiel dem Greenfield Festival herrscht manchmal ein regelrechter Ansturm», erklärt Franziska Hold. Dann komme es schon mal vor, dass die Behandlungsplätze nicht ausreichten und Patientinnen und Patienten in der nebenan gelegenen Tagesklinik betreut werden müssten.
Die Jahreszahlen verdeutlichen, wie gefragt die Dienste des Notfalls sind: Mehr als 14 000 Personen aus aller Herren Länder liessen sich 2023 hier behandeln. Rein mathematisch betrachtet hat das Personal jeden Tag im Schnitt 40 Patientinnen und Patienten zu versorgen. Die meisten der Fälle können die Fachleute von A bis Z behandeln. Bei schweren und komplexen Notfällen wie Herzinfarkt und Schlaganfall besteht eine enge Zusammenarbeit mit dem Inselspital: Im Notfall in Interlaken erfolgt eine so genannte Erstintervention, um die Person zu stabilisieren und anschliessend deren Transfer nach Bern, wo die eigentliche Behandlung durchgeführt wird.
Wenn die Geduld fehlt
In den letzten Jahren hat Franziska Hold festgestellt, dass immer mehr Menschen den Notfall aufsuchen, die in der Region keinen Hausarzt mehr finden. «Ich habe Verständnis für die Leute, wenn sie ein medizinisches Problem haben, aber einige von ihnen sind nicht so schwer krank oder verletzt, dass sie eine notfallmässige Versorgung brauchen.» Die Stationsleiterin Notfallpflege verweist auf den Hausarztnotfall der Region Interlaken, der an Abenden und Wochenenden für leichtere Fälle zur Verfügung steht oder die Walk-in-Clinic, die von Montag bis Freitag ohne Voranmeldung aufgesucht werden kann. Bei leichten Symptomen wie Erkältung oder Halsschmerzen könne auch mal eine Apotheke weiterhelfen, fügt sie hinzu.
Franziska Hold, Stationsleiterin Notfallpflege und Assistenzarzt Florian Eicher befreien gemeinsam den Fuss des lädierten Beins vom klobigen Skischuh und dem Skisocken.
«Wir tun unser Möglichstes, aber Wartezeiten sind manchmal unumgänglich.»
Ein anderes Thema, das die Belegschaft des Notfalls immer wieder beschäftigt, sind ungeduldige Patientinnen und Patienten. «Manchmal fehlt ihnen das Verständnis, auch wenn schwerere Fälle wie der Skifahrer mit der offenen Unterschenkelfraktur dazwischenkommen und sie länger warten müssen», führt Franziska Hold aus. Ein Video, das als Endlos-Schlaufe auf einem Bildschirm im Wartezimmer läuft und Patientinnen und Patienten aufklärt, warum es zu Wartezeiten kommen kann, helfe leider nicht immer, Reklamationen oder gar lautstarke Beschwerden zu verhindern. «Wir tun unser Möglichstes», versichert Franziska Hold, «aber Wartezeiten sind manchmal unumgänglich.»
Geburtstagsfest muss warten
Auf dem Weg in ihr Büro schaut die Stationsleiterin Notfallpflege kurz bei einem Patienten vorbei, der sich tapfer in Geduld übt. Der siebenjährige Knabe, dem ein Schlittschuh beim Eishockeyspielen eine tiefe Schnittwunde am Kinn zugefügt hat, liegt ergeben auf der Behandlungsliege. Dabei wäre er von Herzen gerne woanders, wie seine Mutter erzählt: «Er ist heute zu einem Kindergeburtstag eingeladen.»
Steigende Notfall-Zahlen an fmi-Spitälern
Die Notfälle der Spitäler fmi AG in Interlaken und Frutigen werden seit Jahren verstärkt frequentiert. 2023 liessen sich im Alpinen Notfallzentrum Interlaken über 14 000 Personen behandeln, knapp dreissig Prozent mehr als noch ein Jahrzehnt zuvor, im Notfall Frutigen waren es vergangenes Jahr knapp 5000 Patientinnen und Patienten.
Überproportional zugenommen hat der Anteil der Personen, die selbständig den Notfall aufsuchen. Ihr Anteil macht mittlerweile mehr als die Hälfte aller Konsultationen aus. Einer der Gründe dafür ist laut Dr. med. Gregor Siegel, ärztlicher Direktor des Spitals Interlaken, dass immer mehr Menschen in der Region keinen Hausarzt mehr haben. Mit Blick darauf, dass in nächster Zeit überdurchschnittlich viele Hausärzte in Pension gehen werden, rechnet Siegel damit, dass der Druck auf die Notfallstationen noch zunehmen dürfte.
Nebst den Einheimischen suchen auch viele Tages-und Feriengäste die Notfallstationen an den fmi-Spitälern Interlaken und Frutigen auf. Denn das östliche Berner Oberland ist eine der grössten Tourismusdestinationen der Schweiz – und bekannt für seine Outdooraktivitäten. Mehr als ein Drittel der Personen, die 2023 in einem fmi-Notfall behandelt wurden, waren zu Besuch in der Region: Am Spital Frutigen waren es 40 Prozent, im Alpinen Notfallzentrum 32 Prozent, die von ausserhalb des fmi-Einzugsgebiets stammten. Während es in Frutigen vorwiegend Schweizerinnen und Schweizer waren, verzeichnete das Alpine Notfallzentrum mit rund 2000 Patientinnen und Patienten eine noch nie dagewesenen Anzahl von Personen mit Wohnsitz im Ausland.
Im Notfall Frutigen (im Bild) wurden 2023 knapp 5000 Patientinnen und Patienten medizinisch versorgt. Nebst den Einheimischen suchen auch viele Tages-und Feriengästen den Notfall selbständig auf.
Zur Person
Franziska Hold arbeitet seit 19 Jahren im Alpinen Notfallzentrum des fmi-Spitals Interlaken, vor zwei Jahren hat sie die Stationsleitung Notfallpflege übernommen. Die 60-jährige Expertin Notfallpflege und Forensic Nurse hat vier erwachsene Kinder und wohnt in Interlaken. Als Hobby betreibt sie leidenschaftlich Bergsport, von Skitouren im Winter über Klettern und Hochtouren bis zu Wandern im Sommer. Sie lernt Norwegisch, um sich auf ihren jährlichen Skitouren in dem skandinavischen Land besser verständigen zu können. Daneben liest sie gerne Krimis. Ihr Lieblingsautor ist der dänische Schriftsteller Jussi Adler-Olsen. Die Freizeitaktivitäten rundet Franziska Hold mit Stricken ab.
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