Arbeiten auf der Intensivstation: «Ich bin näher beim Menschen»
Text: Daniel Göring, Fotos: Tino Kistler
Der Mann liegt zusammengesunken im Bett. Um den Brustkorb trägt er einen Verband, am linken Unterarm ebenso. Die rechte Hand ist dick einbandagiert, und auf beiden Wangen klebt ein quadratisches Wundpflaster. Der Rentner hat sich vor vier Tagen bei einem Unfall mit dem Brenner des Fonduerechauds starke Verbrennungen zugezogen. Seither wird er auf der Intensivstation im Spital Interlaken behandelt.
Melora Goerler zieht das Stethoskop aus der Tasche ihres hellblauen Oberteils und hört die Lunge des Mannes ab. «Das hört sich gut an», lautet ihr Befund, ehe sie den Vorgang im Bereich der Magengegend wiederholt. «Arbeitet alles bestens», lässt sie den Patienten zufrieden wissen. Es ist 15 Uhr, die Pflegefachfrau hat eben ihre Arbeitsschicht begonnen und führt bei dem Rentner, den sie die nächsten acht Stunden betreuen wird, eine Routineüberprüfung durch.
Auf der Intensivstation lernt Melora Goerler komplexere Fälle kennen als auf anderen Stationen und hat daher nie mehr als zwei Personen in ihrer Obhut.
Dazu gehört auch die Kontrolle, ob die Verbände noch richtig sitzen und keine Wundflüssigkeit ausgetreten ist. Hier gibt es im Moment ebenfalls keinen Handlungsbedarf. Zum Schluss fragt Melora Goerler den Patienten, ob er Schmerzen habe. Er verneint, die Medikamente zeigen noch immer Wirkung.
Situation mit allen Sinnen aufnehmen
Melora Goerler arbeitet seit April 2023 auf der Intensivstation des Spitals Interlaken. Gleichzeitig hat die ausgebildete Pflegefachfrau ein Nachdiplomstudium in Intensivpflege angefangen. «Mich reizt die Komplexität und die Vielseitigkeit der Fälle» begründet sie die Wahl ihrer Weiterbildung. Sie bekommt es mit lebensbedrohlichen Blutvergiftungen, multiplen Brüchen oder schweren Lungenentzündungen zu tun, um einige Beispiele zu nennen.
Noch etwas anderes gefällt der angehenden Expertin Intensivpflege an ihrer Arbeit. Im Gegensatz zur Tätigkeit auf den anderen Stationen hat sie wegen den komplexen Fällen selten mehr als zwei Personen in ihrer Obhut. An diesem Nachmittag ist Melora Goerler neben dem Rentner mit den Brandwunden für eine Touristin mittleren Alters verantwortlich. Diese hat einen Kreislaufkollaps erlitten. «Ich kann mich eingehend um meine Patientinnen und Patienten kümmern, lerne sie besser kennen und bin näher bei ihnen.» Dadurch könne sie noch besser auf die Bedürfnisse der Menschen eingehen, fügt Melora Goerler hinzu.
«Wir lernen, die Situation mit allen Sinnen aufzunehmen und zu interpretieren.»
Vor einer besonderen Herausforderung stehen die Intensivpflegenden bei Patientinnen und Patienten, die nicht mehr bei Bewusstsein sind. Sie müssten die Umstände wahrnehmen und beispielsweise erkennen können, ob eine Person schmerzen empfinde, erklärt Melora Goerler. «Wir lernen, die Situation mit allen Sinnen aufzunehmen und zu interpretieren.»
Auf Person konzentrieren
Eine Patientin oder ein Patient auf der Intensivstation benötigt in der Regel eine erweiterte Betreuung, Aufmerksamkeit und Präsenz der Pflegefachleute. Wird einem diese Arbeitsweise mit der Zeit nicht zu intensiv? Melora Goerler schüttelt den Kopf. «Die Behandlung einer Person in kritischem Zustand ist zwar manchmal anstrengend. Aber ich kann mich voll und ganz auf sie einlassen und habe nicht wie auf einer anderen Station die Situation von sechs weiteren Patientinnen und Patienten im Hinterkopf, die ich nachher ebenfalls noch versorgen muss.»
Sie schätze sehr, dass sie sich jederzeit auf ihr Team verlassen könne, sagt Melora Goerler. In einer akuten Situation brauche es sogar nur einen Zuruf.
Dass die auf der Intensivstation behandelten Menschen an Überwachungsmonitore angeschlossen seien, erleichtere ihr zudem die Aufgabe, ergänzt Melora Goerler. «Ich habe jederzeit die Übersicht über einen Fall und weiss genau, wie es dem Menschen geht.» Das sei bei Patientinnen und Patienten auf anderen Abteilungen in der Regel nicht der Fall
Leben und Tod nahe beieinander
Handkehrum arbeitet Melora Goerler in einem Bereich mit erhöhter Wahrscheinlichkeit, dass eine Patientin oder ein Patient die Krankheit oder die Verletzungen aus einem Unfall trotz intensiver Behandlung nicht überlebt. Wie geht die Pflegefachfrau damit um? Ihre Antwort ist ebenso von Empathie getragen, wie sie von einer professionellen Optik zeugt: «Natürlich schmerzt es, jemanden zu verlieren. Doch wenn sich eine Person in kritischem Zustand befindet, liegen Leben und Tod nahe beieinander.»
Wichtig sei ein enger Austausch mit den Angehörigen, fügt Melora Goerler hinzu. «Wir besprechen mit ihnen die Optionen und legen gemeinsam fest, wie lange wir eine Behandlung weiterführen.» Sie betrachte es in diesem Kontext auch immer als ihre Aufgabe, zu überlegen, was das Beste für die Patientin oder den Patienten sei, was sie oder er in diesem Moment möchte, selbst wenn die Person nicht mehr in der Lage sei, sich zu artikulieren.
Sofortige Unterstützung vorhanden
An der Tätigkeit auf der Intensivstation hat Melora Goerler noch etwas anderes schätzen gelernt: Die Zusammenarbeit im Behandlungsteam, zu dem neben der Ärzteschaft und der Pflege auch Fachkräfte aus weiteren Bereichen wie Physio- oder Ergotherapie zählen. «Wir können uns jederzeit aufeinander verlassen. In einer akuten Situation braucht es einen Zuruf und ich habe sofort Unterstützung bei mir.»
Deshalb will Melora Goerler, wenn sie im Frühling das Nachdiplomstudium abschliesst, auf der Intensivstation in Interlaken bleiben und weitere Erfahrungen sammeln. Sich festlegen, wie lange sie der Intensivmedizin treu zu bleiben gedenkt, mag sie allerdings nicht. «Vielleicht hänge ich irgendwann noch ein Nachdiplomstudium in Anästhesiepflege an», erklärt die Pflegefachfrau mit einem herzhaften Lachen. Wer sie erlebt, ahnt es: Auch diese Ausbildung würde ihr eine Menge spannender Erlebnisse und Erkenntnisse bringen.
Ausbildungsplätze für Nachdiplomstudien
Die Spitäler fmi AG bieten jedes Jahr Ausbildungsplätze für die drei Nachdiplomstudiengänge Anästhesie-, Intensiv- und Notfallpflege (NDS AIN) an.
Die Nachdiplomstudien sind berufsbegleitend und dauern zwei Jahre. Sie umfassen eine Online-Einführung, fünf Module à 360 Lernstunden sowie 540 Lernstunden im Praxisbetrieb. Voraussetzungen für die Nachdiplomstudien sind ein Abschluss als diplomierte Pflegefachperson HF oder ein Bachelor of Science in Pflege an einer Fachhochschule und eine Anstellung im Akutpflegebereich eines Spitals nach Erhalt des Pflegediploms von mindestens sechs Monaten Dauer. Weiter braucht es eine aktuelle berufliche Tätigkeit im Bereich des gewählten Nachdiplomstudiengangs von mindestens 80 Prozent bei einem anerkannten Praxisbetrieb.
Zur Person
Melora Goerler hat sich zuerst zur Fachfrau Gesundheit und danach zur Pflegefachfrau HF ausgebildet. Anschliessend arbeitete sie zwei Jahre auf der Inneren Medizin im Spital Interlaken. Mit dem Start des berufsbegleitenden Nachdiplomstudiums Intensivpflege wechselte sie im April 2023 auf die Intensivstation. Die 25-Jährige ist verheiratet und bezeichnet sich als Bewegungsmenschen. Rennradfahren, Schwimmen und Wandern sind ihre bevorzugten Aktivitäten. Sie reist zudem gerne, mit Vorliebe durch die Schweiz und im näheren Ausland. Für die Zeit nach Abschluss ihres Nachdiplomstudios plant sie einen Trip ausserhalb Europas.
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