Übergewicht: Wenn konservative Methoden ausgeschöpft sind
Text: Daniel Göring, Fotos: Sandro Hügli
Mehr als 40 Prozent der erwachsenen Menschen in der Schweiz sind übergewichtig, 11 Prozent gelten als fettleibig. Oft leiden Betroffene nicht nur unter ihrem zu hohen Gewicht. Ihnen machen Folgeerkrankungen wie Diabetes, Bluthochdruck, Atmungsaussetzer während des Schlafs oder Schmerzen im Rücken und an den Gelenken zu schaffen. Nicht selten leiden übergewichtige Personen auch psychisch, weil sie nicht gleich wie andere Menschen am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können oder sich ausgegrenzt fühlen.
Vier Bedingungen für Operation
Wer mit zu vielen Kilos oder deren Auswirkungen auf den Körper zu kämpfen hat, sitzt früher oder später in der Praxis von Spezialistinnen und Spezialisten für Übergewicht. In der Fachsprache heisst der Bereich Bariatrie (siehe Kasten). Im Spital Interlaken ist Roman Inglin, stellvertretender Chefarzt der Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie, dafür zuständig. Er weist im Gespräch darauf hin, dass die Bariatrie zwei unterschiedliche, aber sich ergänzende Behandlungsmethoden umfasst: einerseits den so genannt konservativen Ansatz mit Diäten, Bewegungsprogrammen und Medikamenten, anderseits die operativen Verfahren.
Damit bei zu hohem Gewicht das Skalpell zum Einsatz kommen kann, müssen laut Roman Inglin vier Bedingungen erfüllt sein. Erstens muss die Patientin oder der Patient einen Body-Mass-Index von über 35 aufweisen. Der Index lässt sich berechnen, indem das Gewicht durch die Körpergrösse in Metern im Quadrat geteilt wird. Zweitens muss die Person trotz ausreichender Kenntnisse bezüglich Ernährung und Gewichtsreduktion erfolglos versucht haben, abzunehmen. Drittens sollte sie sich bewusst sein, dass sie nach dem Eingriff ihre Lebens- und Essgewohnheiten nachhaltig verändern muss. Und letztlich sollte sich die Person zu einer lebenslangen Nachsorge und Betreuung durch ein bariatrisches Zentrum verpflichten, wie es unter anderem das Spital Interlaken betreibt.
Für Roman Inglin, stellvertretender Chefarzt der Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie am Spital Interlaken und Spezialist für Übergewicht, müssen zuerst alle konservativen Massnahmen ausgereizt sein, bevor eine Operation vorgenommen wird.
Alle Massnahmen ausreizen
«Die bariatrische Chirurgie ist nicht als Erstlinien-Therapie anzusehen. Wir wollen zuerst alle konservativen Massnahmen ausreizen, bevor wir eine Operation vornehmen», erklärt Roman Inglin die in der Schweizer Medizin gängige Praxis. Auch wenn die Chancen eher gering seien, dass fettleibige Patientinnen oder Patienten mit einer Diät oder Sport allein anhaltend an Gewicht verlören, solle diese Möglichkeit nicht ausser Acht gelassen werden. «Es gibt immer wieder Menschen, die durch langfristige Umstellung ihres Lebensstils ihr Gewicht dauerhaft senken können.» Anerkanntermassen besser sind laut Inglin die Aussichten beim Verschrieb von Medikamenten. Der Nachteil sei jedoch, dass der Effekt nur so lange anhalte, wie die Patientinnen und Patienten die Präparate einnähmen.
Folgeerkrankungen nehmen ab
«Die effektivste und auch nachhaltigste Gewichtsreduktion lässt sich mit einem chirurgischen Eingriff erreichen. Im Durchschnitt kann die operierte Person mit etwa 70 Prozent Reduktion des Übergewichts rechnen,» betont Roman Inglin. Dies entspreche zirka einem Viertel des Gesamtkörpergewichts. Im Vordergrund stehen zwei Methoden: der Magenbypass und der Schlauchmagen. Bei beiden Eingriffen geht es darum, das Magenvolumen deutlich zu verkleinern (s. Kasten). In der Schweiz machen Magenbypässe laut Inglin knapp vier Fünftel der Operationen aus.
«Eine Operation kann das Übergewicht um etwa 70 Prozent reduzieren.»
Ein verringertes Gewicht reduziert bei den Patientinnen und Patienten meistens auch die Auswirkungen der Folgeerkrankungen. Rund die Hälfte der Personen, die unter Diabetes litten, brauchen nach einer Operation keine entsprechenden Medikamente mehr. Auch auf den Bluthochdruck hat die Gewichtsreduktion oft einen positiven Effekt. Wie Roman Inglin darlegt, klagen die Leute seltener über Gelenkschmerzen und nicht zuletzt verbessere sich das Lebensgefühl der Patientinnen und Patienten deutlich.
Die Medaille hat allerdings eine Kehrseite, die der Mediziner nicht verschweigen will. Patientinnen und Patienten müssen nach einer Operation ihren Lebensstil ändern und beispielsweise darauf achten, dass sie mit dem kleineren Volumen an Essen vor allem genügend Proteine, Vitamine und Spurenelemente aufnehmen.
Der Schlüssel liegt beim Essen
Wie bei anderen Zivilisationskrankheiten liesse sich auch bei Übergewicht ein Teil der gesundheitlichen Probleme an der Wurzel packen. In diesem Fall beim Essen. «Es macht einen grossen Unterschied, ob ich zu Hause ein ausgewogenes Menü koche und das Essen in Ruhe zu mir nehme oder ein Fertiggericht bei einem Grossverteiler kaufe und es schnell esse», bringt Roman Inglin das Thema auf den Punkt. Stark verarbeitete Nahrungsmittel, der oft versteckte Zucker, das hastige Essen sowie Bewegungsmangel – all das führe bei vielen Menschen dazu, dass ihr Sättigungsgefühl spät einsetze und sie mehr Nahrung aufnähmen als nötig. «Der wichtigste Teil der nachhaltigen Gewichtsreduktion passiert in der Küche», hält Roman Inglin denn auch mit Nachdruck fest.
Bariatrie
Bariatrie steht als Fachbegriff für die Behandlung von Übergewicht und Fettleibigkeit (Adipositas). Sofern nichtchirurgische Methoden keine befriedigende Gewichtsreduktion bewirken, kommen operative Eingriffe zum Einsatz. Die häufigsten Methoden sind der Magenbypass und der Schlauchmagen. Bei einer Bypass-Operation wird der Magen kurz unterhalb des Eintritts der Speiseröhre durchtrennt und zugenäht. Es verbleibt eine kleine Magentasche. Diese wird direkt mit dem Dünndarm verbunden. Als Folge wird die Nahrung am Rest-Magen und auch an einem Teil des Dünndarms vorbeigeführt. Der Nahrungsbrei kommt so später mit den Verdauungssäften in Kontakt. Patientinnen und Patienten sind früher satt und verdauen weniger Nahrung.
Ein Schlauchmagen entsteht durch die operative Verkleinerung des Magens zu einem Schlauch. Sein Volumen reduziert sich dadurch um 80 bis 90 Prozent. Daraus resultiert ebenfalls ein früheres Sättigungsgefühl. Nur noch selten zur Anwendung gelangt heute das Magenband. Dabei wird eine Silikonmanschette um den Magen gelegt. Die damit verbundene Einschnürung hat zur Folge, dass der Magen weniger Nahrung aufnehmen kann.
Zur Person
Dr. med. Roman Inglin ist 49-jährig und seit Sommer 2018 stellvertretender Chefarzt Allgemein- und Viszeralchirurgie im Spital Interlaken. Er wohnt in Hinterkappelen, ist verheiratet und Vater von vier Kindern im Alter zwischen 12 und 17 Jahren. Die Familie steht bei ihm, neben dem Beruf, an erster Stelle. Daneben ist er leidenschaftlicher Heimhandwerker und interessiert sich für das Thema Smarthome, das heisst die Digitalisierung und Vernetzung von zuvor manuell ausgeführten Vorgängen im Haushalt.
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