Der ältere Mensch als Ganzes im Zentrum
Text: Daniel Göring, Fotos: Sandro Hügli
Die Bevölkerung in der Schweiz altert immer mehr und immer schneller. Das Bundesamt für Statistik rechnet damit, dass der Anteil der Menschen im Rentenalter bis 2050 von etwas mehr als 30 auf über 46 Prozent ansteigen wird. Eine beeindruckende Zahl. Und eine, hinter der immense Anforderungen auf die Medizin warten. Denn ein alternder Körper wird gebrechlicher und anfälliger für Krankheiten aller Art. Nicht selten kommen bei betagten Menschen gleich mehrere Erkrankungen zusammen. Sie beeinflussen sich gegenseitig und ergeben ein komplexes Krankheitsbild.
Persönliche Ressourcen im Fokus
«Bei älteren Patientinnen und Patienten mit multiplen Erkrankungen ist eine herkömmliche Behandlung nicht immer angezeigt», betont Moritz Strickler. Er ist leitender Arzt für Geriatrie am fmi-Spital Interlaken. Anstatt jedes betroffene Organ und jeden Körperteil isoliert anzuschauen, fokussiere die Altersmedizin auf den Gesamtnutzen: «Es ist nicht unser Ziel, das Leben eines Menschen um jeden Preis und um möglichst viele Jahre zu verlängern. Wir wollen vielmehr seine Lebensqualität fördern.»
Dies kann zum Beispiel bedeuten, bei einer über 90-jährigen Krebspatientin mit wenig Heilungschancen auf eine Chemotherapie zu verzichten und die Kräfte darauf zu konzentrieren, die Schmerzen so weit als möglich zu lindern. Überhaupt gehe die Geriatrie nicht von der Fehlfunktion eines Körperteils aus, sondern baue auf den noch vorhandenen Fähigkeiten und Ressourcen eines Menschen auf, erklärt Moritz Strickler. «Die Frage, die wir uns stellen, ist, welche Massnahmen der Person gesamthaft am gerechtesten werden.»
Rehabilitation wichtig
Ein wichtiges Element in der Altersmedizin ist die Akutrehabilitation. Das Spital Interlaken verfügt dafür über eine spezielle Abteilung mit zehn Betten. Die Behandlung der Patientinnen und Patienten erfolgt gemäss Moritz Strickler interdisziplinär. Je nach Krankheit oder Unfall ziehen die geriatrischen Fachleute Spezialistinnen und Spezialisten anderer Bereiche wie der Physiotherapie, der Ernährungsberatung, der Ergotherapie oder weiterer Fachgebiete bei.
«Wir wollen die Selbständigkeit
der Patientinnen und Patienten stärken.»
Eine Person, die als Folge eines Sturzes im Bett liegen müsse, könne pro Tag bis zu einem halben Kilogramm an Muskelmasse verlieren, hebt der Geriater hervor. Eine rasche, bereichsübergreifende Rehabilitation trage dazu bei, dass die betagte Person bald wieder alleine aufstehen könne – eine wichtige Voraussetzung, um nach Hause zurückkehren zu können und nicht zum Pflegefall zu werden.
Doch die Geriatrie des Spitals Interlaken entlässt ihre Patientinnen und Patientinnen nicht ins Blaue hinaus. «Wir führen mit ihnen oft Rundtischgespräche unter Beizug der Angehörigen und von Fachleuten verschiedener Disziplinen durch», erzählt Moritz Strickler. Dabei werde geklärt, wie sich das Leben in den eigenen vier Wänden möglichst beständig gestalten lasse. Eine Massnahme kann laut Strickler zum Beispiel sein, das Schlafzimmer aus dem Obergeschoss ins Parterre zu verlegen. So bleibe einer älteren Person mit einer Geheinschränkung erspart, die Treppe täglich mehrfach benutzen zu müssen.
Die grosse Herausforderung
Zurück zu den Zahlen des Bundesamtes für Statistik: Wo sieht Moritz Strickler angesichts der raschen Zunahme an betagten und hochbetagten Menschen die grösste Herausforderung für die Altersmedizin in den nächsten zehn Jahren? Der Geriater weist auf die heute schon begrenzten Kapazitäten der Seniorenzentren hin und meint: «Es wird herausfordernd sein, allen Menschen eine situationsgerechte Betreuung für die letzten Lebensjahre anbieten zu können.» Um nach kurzer Pause zu ergänzen: «Wir werden uns als Gesellschaft überlegen müssen, wie wir Wohnformen gestalten können, damit sie für betagte Personen stimmen.» Es ist unüberhörbar: Das Wohl und die Würde dieser Menschen liegen Moritz Strickler am Herzen.
Geriatrische Akutrehabilitation
Das Spital Interlaken bietet in der Abteilung für geriatrische Akutrehabilitation eine auf die Bedürfnisse jeder Patientin und jedes Patienten zugeschnittene Behandlung an. Da die Krankheitsbilder oft durch verschiedene Beschwerden und Probleme komplex sind, erfordert sie eine enge Zusammenarbeit mehrerer Fachbereiche und Berufsgruppen. Dazu gehören Ärztinnen und Ärzte, Pflege, Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie, Ernährungsberatung und je nach Bedarf auch der Sozialdienst. Der Fokus der geriatrischen Akutrehabilitation liegt auf der Selbständigkeit und Lebensqualität von Patientinnen und Patienten.
Zur Person
Dr. med. Moritz Strickler ist seit Mitte 2022 leitender Arzt für Geriatrie am Spital Interlaken. Er verfügt über breite Erfahrung in der Allgemeinen und Inneren Medizin sowie in der Geriatrie. Strickler ist 40-jährig, verheiratet und wohnt in Bern. In seiner Freizeit treibt er gerne Sport – Skifahren im Winter, Fussballspielen, Joggen und Wandern im Sommer. Er bezeichnet sich als fleissigen Leser. Neben medizinischer Fachliteratur haben es ihm vor allem Geschichtsbücher angetan.
Kontakt
Spital InterlakenGeriatrische Akutrehabilitation
Tel-Nr. +41 33 826 27 76 *
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