Wie Social Media auf die Psyche wirkt
Vor der Digitalisierung mussten Menschen deutlich weniger Informationen verarbeiten – und dies erst noch nacheinander. Heute läuft unser Hirn auf Hochtouren: Es verarbeitet eine grosse Menge von Informationen und dies erst noch simultan und parallel. Es reagiert dabei stark auf Stimuli. Stimuli sind Reize, die vom Hirn eine Reaktion verlangen.
Unser Hirn wird von Stimuli angezogen
Unser Hirn liebt solche Reize. Und weil Social Media genau das bietet, wirken sie auch so anziehend auf die meisten. Ihre Dichte kann aber auch zur kognitiven Erschöpfung führen. Denn um Informationen überhaupt verarbeiten zu können, braucht das Hirn reizarme Zeitfenster, also Ruhe.
«Unser Hirn braucht zwischendurch reizarme Zeitfenster. Nach fünf Stunden Social Media ist es ausgepowert»
Unserem Hirn diese Ruhe zu gönnen, wird immer anspruchsvoller, schliesslich sind wir jederzeit und überall mit der ganzen Welt verbunden. Dieser Entwicklung können wir uns nicht entziehen. Umso wichtiger ist es, einen gesunden Umgang mit den sozialen Medien zu finden.
Soziale Medien bieten Chancen, aber auch viele Risiken
Die Vorteile der sozialen Medien liegen in ihrem eigentlichen Ursprung, dem sozialen Aspekt. Sie vereinfachen Kontakte, ermöglichen Gemeinschaften, schaffen Raum für Diskussionen, Zugehörigkeit oder helfen, Themen zu ent-stigmatisieren. Zudem schaffen sie Zugang zu weltweiten Informationen und dienen als Quelle der Inspiration. Natürlich muss man sich bewusst machen, dass ein digitaler Kontakt, noch immer etwas anderes ist, also ein analoger Kontakt von Angesicht zu Angesicht.
Der Mensch braucht soziale Kontakte. Analoge Gespräche können nicht durch digitale ersetzt werden.
Aber die sozialen Medien haben auch eine Kehrseite: Das ständige Vergleichen des eigenen Lebens mit dem Leben anderer Personen kann zu einem negativen Selbstbild führen und das eigene Körperbild stören. Gefährlich kann es auch werden bei Cyberbulling, dem Mobbing im digitalen Raum oder bei bereits suchtgefährdeten Personen, die eine Steigerung des Suchtverhaltens erfahren. Bekannt sind auch negative Phänomene wie das Vermeidung von sozialen Interaktionen durch den Gebrauch von Handys («Phubbing») oder die ständige Angst, etwas zu verpassen (Fear of missing out, kurz «FoMo»).
Wie wir Kinder und Jugendliche schützen können
Besonders anfällig für die Risiken sind ältere Kinder und Jugendliche. Die Entwicklung ihres Gehirns befindet sich genau in dem Zeitraum, in dem sie erste Kontakte mit der digitalen Welt machen, in einer vulnerablen Phase. Es steckt in einer Phase grösserer Adaptionen und macht enorme Wachstumsschübe mit. Es lernt, Impulse zu kontrollieren und übt die Fähigkeiten, Dinge durchzuhalten. Auch das emotional-soziale Lernen steht im Zentrum.
«Der grösste Schutzfaktor für Jugendliche ist Bindungssicherheit. Wir schützen unsere Jugend am besten mit einer verlässlichen Beziehung zu ihnen.»
In diesem Zeitraum reagieren Kinder und Jugendlicher stärker auf soziale Belohnung (wie beispielsweise «Likes»), aber auch auf soziale Kritik. Deshalb ist für sie die Bindung zur «Ursprungsfamilie» besonders wichtig. Verlässliche Beziehungen sind für sie der grösste Schutzfaktor. Jugendliche mit einer unsicheren Bindung zu den engsten Bezugspersonen gelten als Risikogruppe im Umgang mit sozialen Medien.
Smartphone nach spätestens 30 Minuten weglegen
Die Wiedergabe von Inhalten auf Tiktok, Instgram und Co. wird von Algorithmen gesteuert. Sie bestimmen, welche Inhalte wir zu sehen bekommen. Auf vielen Kanälen werden diese Inhalte mit der Nutzungszeit radikaler. Deshalb können wir in den sozialen Medien auf Inhalte stossen, denen wir in der realen Welt kaum begegnen würden.
«Wir bewegen uns alleine in einem (digitalen) Raum, in dem man sich in der realen Welt niemals hin trauen würde.»
Das fängt bei riskanten Challenges an und führt bis zu Videos mit Gewalt, Suizid- und Selbstverletzungscontent. Der Algorithmus führt uns in digitale Räumen, in denen wir uns in der realen Welt nicht hin trauen würden – schon gar nicht alleine. Online sind wir meistens alleine in den digitalen Räumen unterwegs. Je länger man online bleibt, umso radikaler werden die Inhalte. Spätestens nach 30 Minuten sollte man das Smartphone deshalb weglegen.
Tipps für einen gesunden Umgang mit sozialen Medien
- Soziale Medien sind Teil unserer heutigen Gesellschaft. Es ist nicht eine Frage des «ob», sondern des «wie» wir damit umgehen.
- Die bewusste Unterscheidung von analogen und digitalen Kontakten ist wichtig: Digitale Kontakte können persönliche Gespräche nicht ersetzen.
- Gute und gefestigte Beziehungen sind der beste Schutz für unsere Psyche – vor allem bei Jugendlichen.
- Zur richtigen Einordnung der konsumierten Inhalte hilft, sich mit anderen über digitale Erfahrungen auszutauschen bzw. zusammen online unterwegs sein (Eltern/Kind).
- Verbote oder absolute Abstinenz sind oft kontraproduktiv. Eine bewusste Begrenzung und vor allem Förderung anderer Aktivitäten (Sport, Outdooraktivitäten,...) ist erfolgversprechender.
- Periodische digitale Fastenkuren helfen, sich wieder auf das reelle Leben zu fokussieren.
- In Fällen von Cyberbullying oder -mobbing gilt es, unbedingt Unterstützung zu holen.
Zur Person
Lic. phil. Sabrina Müller ist Chefpsychologin der Spitäler fmi AG. In ihrer Freizeit arbeitet die 43-jährige gerne im Garten und ist sportlich in den Bergen unterwegs, sei es auf Skitouren, beim Mountainbiken oder Klettern.
Zur Person
Dr. med Thomas Ihde ist geschäftsführender Chefarzt und leitet seit 2007 die Psychiatrie der Spitäler fmi AG. Er ist verheiratet und Vater eines 21-jährigen Sohnes. Nebenberuflich ist Ihde Präsident der Stiftung Pro Mente Sana, die sich für die psychische Gesundheit in der Schweiz einsetzt.
Öffentlicher Medizinvortrag
Der öffentliche Medizinvortrag zum Thema «Wie wirkt Social Media auf die Psyche?» wurde am 23. Oktober 2024 am Spital Interlaken gehalten und aufgezeichnet.