Tinnitus- wenn das Ohrenläuten nicht mehr aufhört
Text: Daniel Göring, Fotos: Sandro Hügli
Der Mann ist verzweifelt, als er im Besprechungszimmer Benjamin Schwarz gegenübersitzt. Seit Wochen hat er ein störendes Geräusch im Ohr, das zwischen Pfeifen und Rauschen wechselt und ihn zusehends belastet. Eine Untersuchung beim Ohrenarzt blieb ohne somatischen Befund, der etwa 30-jährige Mann weiss nicht mehr weiter. «Man hat mir gesagt, dass sich nichts dagegen tun lässt, aber ich kann mit dem Geräusch nicht leben». Seine Stimme ist durchsetzt mit Hoffnungslosigkeit und Resignation.
Bis 15 Prozent der Menschen betroffen
Benjamin Schwarz kennt die Schilderungen und Gefühlslage des Manns bestens. Er ist Co-Leiter der psychiatrischen Tagesklinik des Spitals Interlaken und kümmert sich nebenher um Patientinnen und Patienten mit einem Tinnitus. Das lästige Geräusch, das oft weder eine äussere Ursache hat noch auf eine krankhafte Veränderung im Gehirn oder der Ohren zurückzuführen ist, beschäftigt etwa 10 bis 15 Prozent der Bevölkerung. Der Grossteil von ihnen könne mit dem Tinnitus umgehen und habe sich an das regelmässige Pfeifen, Zirpen oder Surren im Hintergrund gewöhnt, weiss Benjamin Schwarz.
Auch immer mehr jüngere Menschen sind von einem Tinnitus betroffen.
Bei einem Teil dieser Menschen könne ein Tinnitus Ärger, aber auch Ängste auslösen, so die Erfahrung des Fachmanns. Je länger das unangenehme Geräusch anhalte und je stärker es werde, desto mehr neigten die Betroffenen dazu, sich darauf zu konzentrieren. Mit der Folge, dass der Ton noch durchdringender werde. «Es ist wie bei einem Mückenstich: Wenn Sie anfangen, sich an der Stelle zu kratzen, juckt es nur noch mehr.»
Hörschwäche als Hauptursache
Wenn er keine klar zuordenbare Quelle hat, woher rührt ein Tinnitus eigentlich? Laut Benjamin Schwarz können die subjektiven Geräusche verschiedene Ursachen haben. In rund zwei Dritteln der Fälle liege eine Abnahme des Hörvermögens vor, insbesondere bei den hohen Tönen. Das Gehirn reagiere in der Folge mit einer Art «Phantomimpuls» darauf, was den Tinnitus auslösen könne. Diese Umstände erklären, weshalb ältere Menschen die grösste Gruppe an Patientinnen und Patienten bilden.
Zunehmend würden auch Jüngere eine Beeinträchtigung ihres Gehörs aufweisen, wie Benjamin Schwarz ergänzt. Laute, über Kopfhörer konsumierte Musik sei der Hauptgrund dafür. Weitere Auslöser für einen Tinnitus können gemäss Schwarz Stress sowie Verspannungen im Nacken und Kiefer sein. Doch auch Medikamente, ein Knalltrauma oder ein Ohrenpfropf könnten die Geräusche provozieren.
Benjamin Schwarz, Co-Leiter der psychiatrischen Tagesklinik des Spitals Interlaken, erklärt am Modell mögliche Ursachen für einen Tinnitus.
Den Tinnitus ausblenden
In der Therapie versucht Benjamin Schwarz, den Fokus der Betroffenen vom Tinnitus wegzubringen. «Wenn sie es schaffen, ihm weniger Beachtung zu geben, nimmt seine Wirkung zunehmend ab.» Der ausgebildete Musiktherapeut setzt unter anderem auf Musik als Behandlungsmittel. Sobald sich eine Patientin respektive ein Patient auf die Instrumentierung eines Stücks, die Tempovariationen oder die Refrains einer Aufnahme konzentriere, verliere das Störgeräusch an Einfluss.
«Betroffene lernen, wie sie den Tinnitus in ihrem Alltag zumindest vorübergehend ausblenden können.»
«Die Betroffenen lernen dadurch, wie sie den Tinnitus in ihrem Alltag zumindest vorübergehend ausblenden und vergessen können», fasst Benjamin Schwarz das Ziel der Therapie zusammen. Nach seiner Beobachtung schaffen es Patientinnen und Patienten auch immer wieder, dass das belastende Geräusch an Bedeutung verliert und sie es grösstenteils nicht mehr bewusst wahrnehmen.
Rückzug in Stille ist kontraproduktiv
Was können wir Menschen denn präventiv tun, um unser Gehör möglichst gut vor einem Tinnitus zu bewahren? Nachfolgend fünf Tipps von Benjamin Schwarz, die mithelfen können, dass Ihnen die Ohren nicht dauerklingeln:
- Gehen Sie sorgsam mit Ihrem Gehör um. Tragen Sie zum Beispiel bei Konzerten mit lauter Musik oder während der Arbeit mit lärmigen Geräten einen Gehörschutz.
- Hören Sie auf die Signale Ihres Gehörs und Körpers. Wenn Sie Ihnen mitteilen, dass sie Geräusche gerade nicht so gut ertragen, sollten Sie lieber darauf verzichten, zum Beispiel in ein Restaurant mit lautem Geräuschpegel zu gehen.
- Kümmern Sie sich frühzeitig um eine Hörunterstützung, wenn Sie merken, dass Ihr Gehör nachlässt. Hören ist für die soziale Integration von uns Menschen von grosser Bedeutung.
- Eine ausgewogene Lebensführung unterstützt auch das Gehör. Schlafen Sie ausreichend, ernähren Sie sich abwechslungsreich und bewegen Sie sich regelmässig.
- Wer einen Tinnitus hat, sollte sich nicht aus der Gesellschaft zurückziehen und in die Ruhe gehen. Dadurch erhalten die unerwünschten Töne mehr Raum und wirken automatisch stärker.
Zur Person
Benjamin Schwarz ist Co-Leiter der psychiatrischen Tagesklinik der Spitäler fmi AG in Unterseen. Der ausgebildete Musiktherapeut ist 42-jährig, verheiratet und hat drei Kinder. Er lebt mit der Familie in einem alten Bauernhaus. Die Pflege des Gebäudes und des grosszügigen Umschwungs sind für ihn «Fitness- und Erholungszentrum in einem», wie er es umschreibt. Benjamin Schwarz bezeichnet sich als Genussmenschen. Er spannt den entsprechenden Erlebnisbogen vom Essen über Reisen bis zu inspirierenden Gesprächen mit Menschen.
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