Sie begleitet Menschen zurück in den Alltag
Text: Daniel Göring, Foto: Tino Kistler
Rosmarie Hürzeler (Name geändert) tunkt ihre rechte Hand etwa 20 Sekunden lang in ein rechteckiges, weisses Gefäss. Sie wiederholt den Vorgang nach einer kurzen Pause noch zweimal, dann hat sich eine durchscheinende Wachschicht auf der Hand gebildet. In dem Gefäss befindet sich ein warmes Paraffinbad, das die Durchblutung der Hand verbessert, sie geschmeidig macht und die Muskulatur entspannt. Rosmarie Hürzeler sitzt in einem Behandlungsraum der Ergotherapie im Spital Interlaken.
Ihr gegenüber hat Michelle Müller Platz genommen. Die Ergotherapeutin zieht der Patientin die Wachsschicht nach kurzer Einwirkungszeit von der Hand und massiert mit einem Vibrationsgerät das Gewebe rund um den Daumen. Rosmarie Hürzeler leidet an Rhizarthrose, einem Verschleiss von Knorpel des Daumensattelgelenks, der zu schmerzhaften Entzündungen führt. Vor vier Wochen hat die 72-Jährige ihre Hand operieren lassen. In der heutigen Therapiestunde bringt Michelle Müller der Patientin bei, wie sie mit Training die Hand reaktivieren und die Beweglichkeit wiedererlangen kann. Bei einer Übung, die ihr spontan zusagt, umfasst Rosmarie Hürzeler mit der Hand einen Tennisball und muss mit dem Daumen über die Oberfläche streichen.

Als Ergotherapeutin hat Michelle Müller praktisch täglich mit beeinträchtigten Händen zu tun.
Menschen im Alltag unterstützen
Michelle Müller arbeitet seit Herbst 2024 als Ergotherapeutin für die Spitäler fmi AG. «Mir gefällt es, wenn ich Menschen dort unterstützen kann, wo sie es am meisten gebrauchen können, nämlich im Alltag», erklärt die junge Fachfrau. Es sei ein schönes Gefühl, zu erleben, wenn Patientinnen und Patienten in der Therapie Fortschritte machten und Stück für Stück ihre durch einen Unfall oder an eine Krankheit verlorene Handlungsfähigkeit zurückgewinnen würden. «Wenn eine Person aufgrund einer Einschränkung den Alltag nicht mehr selbst bewältigen kann, verliert sie viel persönliche Freiheit», hebt Michelle Müller hervor.
Es ist denn auch ihr Ziel, die Patientin oder den Patienten durch die Therapie kognitiv möglichst wieder dorthin zu bringen, wo er oder sie vor der erlittenen Beeinträchtigung gewesen ist. Dabei geht es meistens um profane Dinge, an die ein gesunder Mensch keinen Gedanken verlieren würde. Michelle Müller erwähnt als Beispiel das Kochen eines Spiegeleis. Ein vermeintlich einfacher Vorgang: Bratpfanne auf den Herd stellen, Butter darin erhitzen, das Ei aufschlagen und dazugeben und brutzeln lassen, bis es schön knusprig ist. Nicht für Patientinnen und Patienten, die zum Beispiel einen Schlaganfall erlitten haben. Solche Menschen stünden nicht selten mit der Pfanne vor dem Herd und hätten Mühe, sich zu entsinnen, was sie tun müssten, erklärt Michelle Müller. Durch gezielte Übungen versucht sie dann, bei ihnen die Erinnerung an die Abläufe wieder wachzurufen.
«Wenn eine Person aufgrund einer Einschränkung den Alltag nicht mehr selbst bewältigen kann, verliert sie viel persönliche Freiheit.»
«Das will ich auch können»
Wenn Michelle Müller von ihrer Arbeit erzählt, schwingt die Begeisterung in den Sätzen unüberhörbar mit. Die Faszination für den Beruf der Ergotherapeutin hat bereits in der Oberstufe von ihr Besitz ergriffen. An einem Schnuppertag in einer Rehabilitationsklinik schaute sie einem Ergotherapeuten zu, wie er die Hand einer an Gicht leidenden Patientin massierte und durch Übungen mobilisierte. Als die Frau am Ende der Therapie die Finger wieder bewegen konnte, kam Michelle Müller nicht mehr aus dem Staunen heraus und sagte sich: «Der Mann vollbringt Gutes, das will ich auch können.»
Heute hat sie praktisch täglich mit beeinträchtigten Händen zu tun. Neben Schlaganfall gehört die Rhizarthrose zu den häufigsten Gründen, weshalb sich Menschen bei Michelle Müller im Behandlungsraum einfinden. Weitere Ursachen sind neurologische und geriatrische Erkrankungen. Wie erlebt die Ergotherapeutin ihre Patientinnen und Patienten? «Wir arbeiten gemeinsam an Fähigkeiten, die für den Alltag zentral sind. Deshalb kommen die meisten von ihnen motiviert in die Therapie.» Und wenn sie sich der dabei gemachten Fortschritte bewusst werden, erlebt die Ergotherapeutin noch andere Emotionen: «Vor kurzem erzählte mir eine Frau freudestrahlend, dass sie nach der Behandlung erstmals wieder jassen konnte und in der Lage war, die Karten in den Händen zu halten.»

Am besten gefällt Michelle Müller, dass sie Menschen dabei unterstützen kann, verlorengegangene Fähigkeiten zurückzuerlangen und in den Alltag zurückzufinden.
Handkehrum hat Michelle Müller auch schon erlebt, dass ein Patient sich erst Jahre nach einem Schlaganfall für eine Therapie anmeldete. Das habe sie traurig gemacht, gesteht die Ergotherapeutin, denn ihr war von Anfang an klar, dass es nach der langen Zeit, welche der Mann zugewartet hatte, nicht mehr möglich sein würde, alle erlittenen Defizite auszugleichen. «Bei einem Schlaganfall sollte die Therapie so früh als möglich beginnen, sonst bleiben Nervenbahnen dauerhaft geschädigt.»
Mit Tennisball und Knetmasse üben
Rosmarie Hürzeler hat unterdessen neben dem Tennisball verschiedene Arten von Knetmasse ausprobiert. Die rosarote ist ihr zu hart, die beige zu unangenehm, aber die orange fühlt sich gut an, diese kann sie ohne Schmerzen zu einem Ball formen. Michelle Müller trägt ihr auf, bis zur nächsten Therapiestunde sowohl mit dem Tennisball als auch der Knetmasse mehrmals täglich Übungen zu machen. Dann passt sie ihr noch eine neue Handschiene an, die das Daumengelenk weiterhin schonen soll. Die alte will Rosmarie Hürzeler unbedingt mit nach Hause nehmen. «Das ist für meine Enkel», erklärt sie schmunzelnd, «sie wollen damit dökterle.»
Ergotherapie
Die Ergotherapie hat zum Ziel, die Handlungsfähigkeit von Menschen zu fördern, zu erhalten oder wiederherzustellen. Mögliche Gründe für Einschränkungen der Selbständigkeit sind Unfälle, Krankheiten, Entwicklungsstörungen oder psychische Beeinträchtigungen. Die Ergotherapie beinhaltet medizinische, psychologische, pädagogische und soziale Elemente. Sie will Patientinnen und Patienten befähigen, ihren Alltag möglichst autonom zu bewältigen und am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben.
Die Ausbildung zur Ergotherapeutin oder zum Ergotherapeuten erfolgt in einem dreijährigen Studium an einer Fachhochschule. Ein Drittel der Zeit verbringen die Absolventinnen und Absolventen in Praktika. Voraussetzung für das Studium sind eine Berufs-, Fach- oder gymnasiale Maturität sowie ein einjähriges Vorpraktikum, davon mindestens acht Monate in einer Einrichtung des Gesundheits- oder Sozialwesens.

Zur Person
Michelle Müller hat im Sommer 2024 ihr Studium als Ergotherapeutin abgeschlossen. Seit dem Oktober arbeitet die 24-Jährige in der Ergotherapie der Spitäler fmi AG, sowohl am Standort Interlaken als auch in Frutigen. Neben ambulanten und stationären Behandlungen führt sie auch Therapien bei den Patientinnen und Patienten zu Hause durch. In ihrer Freizeit hält sich Michelle Müller gerne in der Natur auf oder schwingt das Tanzbein. Kochen ist eine weitere Lieblingsbeschäftigung, am liebsten bringt sie mexikanische Gerichte auf den Tisch.
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