Hausgemachte Medikamente aus der Apotheke
Text: Daniel Göring, Fotos: Sandro Hügli
Der junge Mann schiebt einen Handzettel über den Tresen: «Ich habe von meiner Ärztin dieses Rezept für einen Hustensirup erhalten.» Die Frau im weissen Kittel überfliegt das Papier und erwidert mit betretener Miene: «Tut mir leid, das Medikament ist im Moment nicht erhältlich. Ich gebe Ihnen ein anderes mit ähnlichem Wirkstoff.»
Fast 1000 Medikamente fehlen
Solche Szenen spielen sich tagtäglich in Hunderten von Schweizer Apotheken ab. «Derzeit fehlen rund 975 verschreibungspflichtige Medikamente und zirka 360 Wirkstoffe», weiss Enea Martinelli. Der Chefapotheker der Spitäler fmi AG hat die genaue Übersicht, führt er doch eine spezielle Website mit dem Namen «drugshortage.ch». Dort listet er fein säuberlich sämtliche Arzneimittel auf, die aktuell in der Schweiz nicht mehr erhältlich sind.
Derzeit seien vor allem Hustenmedikamente Mangelware, erklärt Martinelli. Präparate zur Behandlung der Parkinsonkrankheit oder von Epilepsie seien ebenfalls schwierig zu bekommen, fügt er an. Und nachdem die zweitletzte Herstellerin von Paracetamol enthaltenden Schmerzmitteln in Europa letzten Herbst deren Produktion eingestellt habe, seien auch Präparate mit diesem Wirkstoff rarer geworden.
Dass Medikamente knapp werden oder vorübergehend ganz vom Markt verschwinden, ist kein neues Phänomen. Doch seit der Corona-Pandemie ist ihre Zahl regelrecht in die Höhe geschossen. Produktionsausfälle hier, Lieferengpässe dort. Und wenn dann noch ein Land wie China ein Ausfuhrverbot verfüge wie jüngst bei Paracetamol-Präparaten, dann spürten dies Spitäler und Apotheken weltweit im Nu, erklärt Enea Martinelli.
Dr. pharm. Enea Martinelli vor einem elektronischen Medikamentenschrank im Spital Interlaken
Elektronische Systeme helfen
Wie geht die Spitäler fmi AG mit den knapper werdenden Medikamenten um? Der Chefapotheker verweist auf eine technische Innovation, die seit Jahren in Betrieb ist: die digitale Verschreibung von Arzneimitteln im Zusammenspiel mit elektronischen Medikamentenschränken. Dieses vernetzte System unterstützt die Abgabe von Medikamenten – von der Verschreibung durch Ärztinnen und Ärzte bis zur Bereitstellung der Arzneimittel bei der Pflege. Dadurch hat die Apotheke jederzeit die Übersicht über vorhandene und nachgefragte Medikamente.
«Fehlt ein Präparat, können wir sofort auf ein anderes mit vergleichbarer Wirkung ausweichen», erläutert Martinelli und ergänzt: «Eine weitere Möglichkeit ist, mit ärztlichen oder therapeutischen Fachleuten zu besprechen, ob sie eine Behandlung leicht anpassen und dafür ein alternatives Medikament einsetzen können.» Was sich einfach anhört, ist logistisch und administrativ ein mächtiger Aufwand, wie Martinelli unterstreicht: «Zwei Mitarbeiterinnen kümmern sich mittlerweile ausschliesslich um solche Abklärungen und die Anpassung der internen Systeme.»
«Fehlt ein Präparat,
weichen wir auf ein anderes mit vergleichbarer Wirkung aus.»
Selbsthilfe gefragt
Und wenn ein Medikament weder in der Schweiz noch im umliegenden Ausland aufzutreiben ist, greift das Team der fmi-Spitalapotheke zur Selbsthilfe. «Wir haben angefangen, selber Medikamente herzustellen.» Der Chefapotheker erzählt, dass er vor kurzem die Geräte und Rohmaterialien angeschafft hat, um in Eigenregie Kapseln zu produzieren und sie mit Wirkstoffen abzufüllen.
Muss ich mir als Patient angesichts all dieser Zahlen und Fakten Sorgen machen, dass es bald zu wenig noch wirksame Medikamente geben wird? Der Tonfall in Enea Martinellis Stimme verscheucht jeglichen Zweifel: «Sie brauchen keine Angst zu haben. Wir werden alles tun, damit Ihre Behandlung weiterhin mit den besten verfügbaren Medikamenten erfolgen kann.»
Apotheke
Die Apotheke der Spitäler fmi AG versorgt sämtliche fmi-Betriebe und weitere Gesundheitsinstitutionen im Berner Oberland mit Arzneimitteln. Zudem betreibt sie im Spital Interlaken die öffentlich zugängliche «Apotheke Weissenau». Die Dienstleistungen umfassen die Auswahl, Beschaffung und Lagerung der Arzneimittel, die Beratung von ärztlichen, pflegerischen und therapeutischen Fachpersonen, die Qualitätssicherung sowie die Herstellung spezifischer Rezepturen für verschiedene Therapien.
Zur Person
Dr. pharm. Enea Martinelli ist seit 1994 Chefapotheker im Spital Interlaken. Er sitzt im Vorstand des Schweizerischen Vereins der Amts- und Spitalapotheker und amtet als Vizepräsident des nationalen Apothekerverbandes Pharmasuisse. Der 57-jährige Martinelli ist verheiratet, Vater von zwei erwachsenen Kindern und lebt in Matten bei Interlaken. In seiner Freizeit joggt er und läuft regelmässig Marathons. Unter anderem hat er bereits siebenmal den Jungfrau-Marathon absolviert. Im Winter trifft er sich wöchentlich mit Kollegen zum Kegeln.
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