«Es ist bereichernd, als Generalist tätig zu sein»
Text: Daniel Göring, Fotos: Sandro Hügli
Sie haben soeben den Ruhestand angetreten – zählten Sie am Schluss die Tage?
Otto Maurer: Ich zählte keine Tage, so im Sinne, dass ich es nicht erwarten konnte, bis ich endlich in den Ruhestand kam. Ich würde auch nicht sagen, dass ich mich auf die Pensionierung gefreut habe, denn das hätte bedeutet, ich hätte mich nicht wohlgefühlt bei der Arbeit – und das stimmt nicht. Ich habe dem Ruhestand mit einem neutralen Gefühl entgegengesehen.
Heinz Schaad: Ich habe mich ebenfalls nicht nach dem Ruhestand gesehnt. Ich habe immer gerne gearbeitet und tue auch nach der Pensionierung nicht einfach nichts mehr.
Sie können auf 25 Jahre als Chefärzte zurückblicken – wie hat sich die Innere Medizin in dieser Zeit verändert?
Schaad: Die Dimensionen haben sich in verschiedener Hinsicht verändert. Wir haben 1999 mit acht Assistenzärztinnen und -ärzten angefangen, heute sind es 21. Damals behandelten wir rund 1400 Patientinnen und Patienten stationär, bis letztes Jahr hat sich diese Zahl auf etwa 2600 erhöht. Gleichzeitig sind auch die ambulanten Konsultationen stark angestiegen auf über 18'000 im Jahr 2023.
Noch eine weitere Zahl: Anfang Jahrtausend führten wir jährlich wenige hundert Chemotherapien durch, heute sind es mehrere tausend Applikationen – mehrheitlich Immuntherapien. Deren Wirkung hat sich stark verbessert. Wir sehen heute Patientinnen und Patienten, die einen Tumor mit mehrfachen Metastasen überleben, was vor 25 Jahren undenkbar war.
Maurer: Neben der Medizin hat sich auch der Betrieb verändert. Früher gehörte noch ein Bauernhof zum Spital, von dem unsere Küche Fleisch und Gemüse bezog. Als ich hier anfing, hatten wir Schreibmaschinen und keine Computer, alles war kleiner und überschaubarer. Aus dem KMU, welches das Spital Interlaken damals war, ist die fmi-Gruppe in Form einer Aktiengesellschaft und mit verschiedenen Standorten entstanden.
«Früher hatten Patientinnen und Patienten ein Pflanzenbuch aus Gotthelfs Zeiten, heute steht ihnen das Internet zur Verfügung.»
Eines der prägendsten Ereignisse in seiner Karriere war für Heinz Schaad die Corona-Pandemie. Er und seine Team standen in dieser Zeit vor immensen Herausforderungen.
Es heisst oft, Patientinnen und Patienten seien anspruchsvoller geworden – stimmt das?
Maurer: In meiner Wahrnehmung sind Patientinnen und Patienten anspruchsvoller geworden. Früher hatten sie ein Pflanzenbuch aus Gotthelfs Zeiten, in dem sie Krankheiten und Behandlungsmethoden nachschlagen konnten, heute steht ihnen das Internet zur Verfügung. Und wenn sie damit nicht klarkommen, haben sie bestimmt ein Grosskind, das für sie im Web nach Informationen surft. Wir haben immer wieder Patientinnen und Patienten, die mit einer vorgefassten Meinung kommen, welche Untersuchungsmethode oder Therapie sie brauchen. Unsere Einschätzung zählt weniger als früher.
Schaad: Verändert hat sich nicht nur die Haltung, sondern auch die allgemeine Gesundheit der Menschen. Heute sind 70-Jährige in der Regel so zwäg, wie es vor 50 Jahren die 50-Jährigen waren. Daraus sind auch Ansprüche erwachsen, was einem das Leben jenseits der Pensionierung noch bieten soll und wie die Medizin dazu beizutragen hat, diesen Zustand möglichst lange aufrechtzuerhalten. Die medizinische Versorgung in der Schweiz hat ein hohes Niveau erreicht und sie ist allen Menschen zugänglich. Da ist es naheliegend, dass die Erwartungen der Patientinnen und Patienten nicht kleiner geworden sind.
Otto Maurer wird das Spital Interlaken nicht ganz verlassen. Er übernimmt die Stellvertretung der Nierenspezialistin und leitet einmal wöchentlich die Dialysestation.
Trauern Sie den Zeiten nach, als Ärztinnen und Ärzte noch «Halbgötter in Weiss» waren?
Maurer: Überhaupt nicht! Ich begrüsse es im Gegenteil, wenn Patientinnen und Patienten mitdenken und mitdiskutieren wollen. Gemeinsam lässt sich meistens die beste Behandlung für eine Person finden.
Schaad: Patientinnen und Patienten, die gut informiert sind, machen in der Regel bei einer Therapie motiviert mit. Ohne eine gute Beteiligung der erkrankten Person haben wir gegen eine Krankheit praktisch schon verloren. Und ein hohes Bewusstsein der Menschen für ihre Gesundheit hilft, Krankheiten so lange wie möglich von ihnen fernzuhalten.
Sie haben die Innere Medizin 25 Jahre lang geleitet. Wie würden Sie Ihre Zusammenarbeit in einem Satz beschreiben?
Maurer: Für mich ist die Zusammenarbeit mit Heinz immer unkompliziert und direkt gewesen.
Schaad: Wir sind offen und ehrlich miteinander umgegangen, auch wenn wir nicht immer einer Meinung waren.
Was haben Sie aneinander geschätzt?
Schaad: Otto Maurer ist unglaublich stark im Umgang mit Patientinnen und Patienten. Er hat eine phänomenale Fähigkeit, mit den Menschen zu sprechen und auf sie einzugehen. Ich sage immer zu den Assistenzärztinnen und -ärzten: «Das müsst ihr von ihm abschauen.»
Maurer: Heinz Schaad ist ein ausgezeichneter Kenner der Medizin und ein vielseitiger Arzt.
«Obwohl das Spital im Verlauf der Jahre grösser geworden ist, haben wir es geschafft, den familiären Charakter des Betriebes zu erhalten.»
Sie haben dem Spital Interlaken während mehr als 25 Jahren die Treue gehalten. Was macht das Spital für Sie so besonders?
Schaad: Wir hatten, um es vereinfacht auszudrücken, eine wunderbare medizinische Spielwiese. Wir durften viele Projekte realisieren und konnten mithelfen, das Spital als Gesundheitsversorgerin der Region zu positionieren. Die Digitalisierung konnten wir von Null auf Hundert, also von der Schreibmaschine bis zum heutigen integrierten Informationssystem begleiten und mitbeeinflussen.
Maurer: Obwohl das Spital im Verlauf der Jahre grösser geworden ist, haben wir es geschafft, den familiären Charakter des Betriebes zu erhalten. Wir kennen alle einander und wissen, wer was macht und wohin wir uns wenden können, wenn wir etwas brauchen. Dass wir als Generalisten tätig sind, ist für mich eine grosse Bereicherung. Das macht unsere Aufgabe abwechslungsreich und interessant. In einem Universitätsspital wären wir auf einzelne Fachrichtungen spezialisiert und würden den ganzen Tag das Gleiche tun, hätten also einen eintönigeren Job.
Das Spital Interlaken sei im Verlauf der Jahre grösser geworden, trotzdem würden alle einander kennen und wissen, wer was mache, sagt Otto Maurer.
Gibt es ein Ereignis in all den Jahren, das Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?
Maurer: Vor ein paar Jahren hat ein Mann mitten in der Nacht bei der Notfallstation geklingelt. Seine schwangere Frau, die auf dem Parkplatz im Auto sass, hatte starke Wehen. Als das Notfallpersonal zu der Frau geeilt kam, hatte sie ihr Kind bereits geboren. Die beiden waren wohlauf und konnten sich auf der Wöchnerinnenstation von den Strapazen erholen.
Schaad: Prägend war für mich die Corona-Pandemie. Wir standen vor einer immensen Herausforderung, wussten lange nicht, wie weit wir mit unseren Schutzmassnahmen gehen mussten. Wir waren anfänglich mit den Einschränkungen von Besuchen sehr streng und konsequent. Im Nachhinein betrachtet wären so harte Massnahmen nicht alle nötig gewesen, aber damals wussten wir das einfach noch nicht.
Was werden Sie in Ihrem Rentnerleben mit Priorität tun?
Maurer: Ich habe eine To-Do-Liste von Dingen, die ich über die Jahre aufgeschoben habe. Zuoberst darauf ist, mehr mit der Familie zu unternehmen, gemeinsame Essen oder auf einen Ausflug zu gehen. Durch meinen Beruf ist das Familiäre über die Jahre zu kurz gekommen, da will ich ehrlich sein.
Schaad: Auch ich will mir mehr Zeit für die Familie und Freunde nehmen. Ich bin dankbar, dass meine Familie immer Verständnis für mein berufliches Engagement gehabt hat.
Werden Sie künftig noch im Spital Interlaken anzutreffen sein?
Maurer: Ich werde die Stellvertretung unserer Nierenspezialistin übernehmen und einmal wöchentlich die Dialysestation leiten.
Schaad: Mich wird man nicht mehr im Spital antreffen, aber thematisch bleibe ich nahe dran und werde als medizinischer Gutachter Teilzeit weiterarbeiten.
Was geben Sie Ihren beiden Nachfolgern mit auf den Weg?
Maurer: Sie übernehmen einen herausfordernden und spannenden Job. Sie können viel bewegen, auch in der Ausbildung von jungen Ärztinnen und Ärzten. Sie haben es in der Hand, mitzuhelfen, dass sich das Spital Interlaken medizinisch, aber auch unternehmerisch weiterentwickeln kann.
Schaad: Sie können darauf zählen, dass die Bevölkerung Vertrauen ins Spital hat und sie mit ihrer Arbeit auf einem guten Fundament von Goodwill beginnen dürfen.
Innere Organe im Zentrum
Die Allgemeine Innere Medizin befasst sich mit der Diagnostik und der konservativen Behandlung von Krankheiten der inneren Organe eines Menschen. Die konservative Therapie stützt sich auf Medikamente oder physikalische Massnahmen. Die Innere Medizin behandelt Erkrankungen der Herz-, Kreislauf- und Atmungsorgane, des Verdauungssystems, der Nieren und Harnwege, des Blutes und der blutbildenden Organe, des Stoffwechsels und der Hormondrüsen sowie des Stütz- und Bewegungsapparates. Hinzu kommen Behandlungen von Infektionskrankheiten sowie allergischen und immunologischen Erkrankungen.
Allgemeine Innere Medizin am Spital Interlaken
Dr. med. Heinz Schaad und Dr. med. Otto Maurer haben während 25 Jahren als Chefarzt und stellvertretender Chefarzt die Innere Medizin im Spital Interlaken geleitet. Anfang August 2024 haben sie das Zepter an PD Dr. med. Manuel Blum und Dr. med. Tobias Anliker übergeben. Die beiden werden als Co-Chefärzte fungieren.
Zur Person
Dr. med. Heinz Schaad ist Vater von drei erwachsenen Kindern und lebt mit seiner Partnerin zusammen. Er zieht in seiner Freizeit gerne Tomaten und ist Mitglied einer Weinbaugenossenschaft.
Zur Person
Dr. med. Otto Maurer ist verheiratet und Vater von zwei erwachsenen Kindern. In seiner Freizeit fährt er Motorrad, wandert gerne in den Bergen und ist auch als Pilzsammler unterwegs.
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