Eine Lehre fürs Leben auf Sansibar
Text: Daniel Göring, Fotos: Louis Pasquier
Sansibar – ein klangvoller Name, der als Synonym für unbeschwerte Badeferien an langgezogenen weissen Sandstränden steht. In den Hochglanzprospekten der Reisebüros wird die Inselgruppe vor der Küste Tansanias gerne als «Perle im Indischen Ozean» angepriesen. Alina Rogenmoser und Yvonne Josi waren nicht in Ferienstimmung, als sie Anfang Januar auf dem Abeid Amani Karume International Airport landeten. Sie hatten ein anderes Ziel als den Strand und das Meer. Ihre Reise führte sie in ein Spital in Stone Town, dem ältesten Stadtteil von Sansibar. Die Hebammen aus dem fmi-Spital Interlaken hatten sich über eine deutsche Freiwilligenorganisation für ein sechswöchiges Praktikum angemeldet.
Am Anfang war das Fernweh
Die Idee für den Auslandeinsatz war während der Coronapandemie entstanden. Auf die eigenen vier Wände zurückgeworfen, hatte Alina Rogenmoser das Fernweh gepackt. «Lass uns nach Afrika gehen und ein Praktikum machen», schrieb sie ihrer Arbeitskollegin Yvonne Josi in einer SMS. Diese fand auch, dass es an der Zeit war, etwas Neues zu wagen und Erfahrungen im Ausland zu sammeln. Die Praktikumsplätze auf Sansibar hatten die beiden Hebammen via Internet im Nu gefunden, doch ehe sie die Koffer packen konnten, mussten sie dafür sorgen, dass jemand ihre Arbeit im Spital Interlaken übernahm.
Vor ihrer Reise mussten die beiden Hebammen schauen, dass jemand ihre Arbeit übernahm. Rasch hatte das Duo die Zusagen beisammen, um seine Stellenprozente am Spital Interlaken zu ersetzen. Ein deutliches Zeichen für den starken Zusammenhalt im Team.
Kein einfaches Unterfangen, würde man annehmen, doch die Pläne des Duos stiessen im Hebammen-Team auf offene Ohren. «Fast alle Kolleginnen waren bereit, ihr Pensum vorübergehend aufzustocken», schwärmt Alina. Innerhalb eines Monats hatte das Duo die Zusagen beisammen, um seine 170 Stellenprozente zu ersetzen. Ein deutliches Zeichen für den starken Zusammenhalt im Team, wie Yvonne voller Dankbarkeit ergänzt.
Zuerst der Kulturschock…
Im Spital in Stone Town angekommen, erlebten die zwei Hebammen aus der Schweiz erst mal einen Kulturschock. «Bloss nichts anfassen!» sei ihr erster Gedanke gewesen, erzählt Alina. Auch Monate danach ist ihr bei der Erinnerung noch immer sichtlich unwohl. Die Betten in der Geburtenstation seien rostig gewesen, die Laken voller Flecken, an Desinfektionsmitteln habe es überall gemangelt und auch die Arbeitsinstrumente wie Scheren, Skalpelle und Infusionsschläuche seien Mangelware gewesen.
«Alle waren überall, aber häufig war niemand richtig für die Frauen da.»
Das Spital in Stone Town, dem ältesten Stadtteil von Sansibar.
Nicht nur die Frauen auf der Geburtenstation, auch das medizinische Personal war den zwei Schweizerinnen unendlich dankbar für ihre Hilfe.
Am schockierendsten war für sie beide zu sehen, dass im Gebärsaal bis zu acht Betten standen und die Mehrheit davon mit zwei Frauen belegt waren. Privatsphäre? Komplette Fehlanzeige! Zeit, um sich um die werdenden Mütter zu kümmern, hatte kaum jemand. Wohl habe es einen Tross Studentinnen und Studenten gegeben, der den Fachleuten auf Schritt und Tritt gefolgt sei, berichtet Yvonne. Doch die Frauen seien zwischendurch immer wieder sich selbst überlassen gewesen. «Alle waren überall, aber häufig war niemand richtig für sie da.»
…dann die rasche Gewöhnung
Zu ihrer eigenen Überraschung gewöhnten sich die Schweizer Hebammen schnell an die in ihren Augen unzureichende Hygiene, den krassen Mangel an Personal und die chaotische Organisation. «Wir haben einfach angefangen, uns hineinzuknien. Und auf einmal war es wie selbstverständlich, auf einem schmutzigen Bett zu sitzen und einer Frau bei der Geburt beizustehen», blickt Alina zurück. Das Duo aus Europa durfte seine Einsätze im Spital selbst gestalten und sah sich denn auch in der Rolle von Jokern. «Wir konnten aushelfen, wo wir wollten», erzählt Yvonne.
«Der Umgang mit uns war sehr herzlich.»
Sie hätten nebst der Geburtshilfe Blutentnahmen vorgenommen, Infusionen gelegt, Medikamente verabreicht oder die Frauen auf die Toilette begleitet. Just das Menschliche lag den Beiden besonders am Herzen. «Wir haben immer wieder versucht, für die einzelnen Frauen da zu sein, ihnen den Rücken zu massieren, wenn die Wehen kamen», erinnert sich Yvonne. «Eines unserer Anliegen war, den Studentinnen und Studenten zu zeigen, wie sie sanfter mit einer gebärenden Frau umgehen können», fügt Alina bei.
Privatsphäre war gab es auf der Geburtsabteilung in Sansibar keine. Auch die Zeit, sich um sich um die werdenden Mütter zu kümmern, fehlte.
Nicht nur die Frauen, auch das medizinische Personal auf der Gebärstation war den zwei Schweizerinnen unendlich dankbar. «Der Umgang mit uns war sehr herzlich», erinnert sich Yvonne. So herzlich, dass daraus in wenigen Wochen Kontakte entstanden, von denen die Beiden überzeugt sind, dass sie Jahre überdauern werden.
Alina Rogenmoser und Yvonne Josi war es als ausgebildete Hebammen ein Anliegen, dem medizinischen Personal beispielsweise zu zeigen, wie sie sanfter mit einer gebärenden Frau umgehen können».
«Die Leute geben alles»
Seit Anfang April sind Alina Rogenmoser und Yvonne Josi zurück im Spital Interlaken. Was bleibt von ihrem Aufenthalt in Sansibar? Sie müssen nicht lange überlegen. «Es war eine Lehre fürs Leben. Mich hat beeindruckt, wie Leute in dem Spital alles geben, auch wenn ihnen wenig Mittel zur Verfügung stehen», meint Yvonne. Und Alina ergänzt. «Wir haben gelernt, manche Dinge gelassener zu nehmen. Nicht nur während der Arbeit, sondern grundsätzlich in unserem Alltag.»
An ihren Einsatz im Spital auf Sansibar hängten die beiden Frauen eine sechswöchige Reise durch Tansania und Südafrika an. Die Erlebnisse in Afrika hat das Duo zusammengeschweisst.
Zurück in Interlaken empfinden die beiden Hebammen ihr Abenteuer als Lehre fürs Leben. «Wir haben gelernt, manche Dinge gelassener zu nehmen. Nicht nur während der Arbeit, sondern grundsätzlich in unserem Alltag.»
Hebamme
Hebammen begleiten werdende Mütter, Gebärende, Neugeborene und ihre Familien. Sie beraten und unterstützen die Mütter sowie ihre Partnerinnen und Partner während der Schwangerschaft, der Geburt, in der Zeit im Wochenbett und rund ums Stillen. Die Ausbildung zur Hebamme FH besteht aus einem dreijährigen Vollzeitstudium und einem anschliessenden mehrmonatigem Praktikum. Diplomierte Pflegefachleute haben die Möglichkeit, die Ausbildung in einem zweieinhalbjährigen Teilzeitstudium zu durchlaufen. Auch während des Studiums sind diverse Praktika zu absolvieren. Voraussetzungen für das Studium sind eine Berufs-, Fach- oder gymnasiale Maturität und ein Vorpraktikum im Gesundheitswesen.
Zu den Personen
Alina Rogenmoser und Yvonne Josi arbeiten seit beinahe drei Jahren als Hebammen im fmi-Spital Interlaken. Alina Rogenmoser ist 25-jährig und wohnt in Thun. In ihrer Freizeit reitet sie gerne und geniesst oft mit Freunden einen Latte Macchiato am See. Yvonne Josi ist 27 Jahre alt und in Krattigen zu Hause. Sie liebt die Natur und ist regelmässig draussen unterwegs. An ihren Einsatz im Spital auf Sansibar hängten die beiden Frauen eine sechswöchige Reise durch Tansania und Südafrika – inklusive Safari – an. Die Erlebnisse in Afrika hat das Duo zusammengeschweisst. «Wir unternehmen nun viel mehr zusammen», betont Yvonne und legt ihrer Kollegin freundschaftlich den Arm um die Schulter.
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