Ein Ruhepol auf 84 Hufen
Text: Daniel Göring, Fotos: Sandro Hügli
Mit der rechten Hand öffnet er den schwenkbaren Flügel des Absperrgitters, in der linken hält Stefan Abplanalp einen Stoffsack. Vorsichtig betritt er das Gehege, dicht gefolgt von seiner Frau Sonja, die ebenfalls eine Tasche aus Textil bei sich hat. Im Nu stehen Petra, Blue und Schlitzohr dem Ehepaar gegenüber, die Köpfe nach vorne gereckt. Stefan und Sonja Abplanalp holen trockene Brotstücke aus ihren Stofftaschen, nach denen die drei Damhirsche eifrig schnappen. «Das ist unser vorwitzigstes Trio», meint Sonja und lacht. Als wäre der Satz eine Aufforderung gewesen, wirft Stefan eine Reihe Brotstücke nach hinten, wo die scheuen Tiere stehen und mit sehnsüchtigem Blick auf das Futter warten.
Die Damhirsche sind ein entspannender Ausgleich für Stefan und Sonja Abplanalp.
Kein Tag wie der andere
21 Damhirsche umfasst die Herde des Ehepaars Abplanalp. Die Tiere sind für die beiden so etwas wie ein Ruhepol auf 84 Hufen. «Sie wirken entspannend und lassen uns auf andere Gedanken kommen», erklärt Sonja Abplanalp. «Vor allem an Tagen, wenn wir im Job Trauriges gesehen haben», ergänzt Stefan. Schwierige Momente gehören zum beruflichen Alltag des Ehepaars Abplanalp, denn die beiden arbeiten für den Rettungsdienst der Spitäler fmi AG. Sie sind es gewohnt, Menschen in Krisensituationen anzutreffen, sei es nach einem Herzinfarkt oder einem Verkehrsunfall, sei es in der Folge einer allergischen Reaktion auf einen Wespenstich.
«Wir können Menschen in Ausnahmezuständen helfen. Dafür sind sie unendlich dankbar.»
Eigentlich liegt Sonja und Stefan Abplanalp gar nicht daran, die belastenden Erfahrungen ihres Berufs in den Vordergrund zu rücken. Sie wollen vielmehr davon erzählen, was sie an der Arbeit schätzen. Sonja beginnt mit der Abwechslung: «Kein Tag verläuft gleich wie der vorherige. Ich weiss am Morgen nie, was mich bis am Abend alles erwartet.» Stefan bringt die Hilfe ins Gespräch ein: «Wir können Personen in Ausnahmezuständen helfen. Dafür sind sie oft unendlich dankbar.» Doch auch in Fällen, in denen der Rettungsdienst nicht mehr viel verrichten könne, sei es möglich, einem Menschen etwas zu geben, wie Stefan Abplanalp ergänzt: «Wir können für ihn da sein – bis zuletzt.» Alles in allem, da stimmt das Paar überein, ist die Tätigkeit für den Rettungsdienst «einer der schönsten Berufe, die man sich vorstellen kann».
Auch die beiden Töchter von Sonja und Stefan Abplanalp, Sina (links) und Fiona, helfen fleissig auf dem elterlichen Hof mit.
Noch näher kennen gelernt
Sonja und Stefan Abplanalp sind schon lange mit dem Rettungsdienst im östlichen Berner Oberland unterwegs. Sie seit 2007, er noch vier Jahre länger. Kennen gelernt hatten sich die beiden um die Jahrtausendwende im Spital Meiringen. Sonja arbeitete damals in der Pflege, Stefan im technischen Dienst. Sie waren bereits ein Paar, da gingen sie beruflich neue Wege: Sonja wechselte auf die Intensivpflege ins Spital Interlaken und Stefan absolvierte die Ausbildung zum Rettungssanitäter. Seit nunmehr 17 Jahren kümmern sie sich um die Rettung sowie den Transport von verletzten, verunfallten oder schwerkranken Menschen.
Zu Beginn standen Sonja und Stefan Abplanalp oft gemeinsam im Einsatz. Eine Zeit, von der ihnen vieles in Erinnerung geblieben ist. Sie hätten einander als Mensch noch näher kennen gelernt, führt Sonja aus: «Wir mussten uns während einer Rettung nur kurz anschauen und wussten sofort, was wir dachten und fühlten.» Heute sind die beiden nicht mehr in den gleichen Equipen unterwegs. Sonja arbeitet in einem 30-Prozent-Pensum weiterhin als Transportsanitäterin, Stefan ist stellvertretender Leiter des Rettungsdienstes in Vollzeit und viel mit Planung, Organisation und Leitung der Einsätze beschäftigt. Eine Situation, die Sonja nicht nur behagt. «Manchmal bin ich regelrecht im Sandwich. Auf der einen Seite kenne ich seine Herausforderungen, auf der anderen Seite die Befindlichkeiten in meinem Team.» Wie in jedem Betrieb passt nicht immer beides perfekt aufeinander.
«Der Rettungsdienst ist ein Traumjob, aber er bestimmt nicht unser ganzes Leben.»
Das gegenseitige tiefe Verständnis sei davon unbesehen geblieben, hebt Stefan Abplanalp hervor: «Es ist schön, wenn ich weiss, ich kann heimkommen, ihr etwas erzählen, das mich beschäftigt hat, und sie kann mir nachfühlen.» Täglich über den Job zu reden ist für das Ehepaar Abplanalp wichtig, um einen Ausgleich zwischen Beruf- und Privatleben zu schaffen. Aber nicht so bedeutend, dass es Dauerthema wäre. Sonja zieht eine klare Grenze: «Der Rettungsdienst ist ein Traumjob, aber er bestimmt nicht unser ganzes Leben. Wir haben noch andere Dinge, die uns wichtig sind.»
Sonja und Stefan Abplanalp waren etliche Jahre nicht nur als Paar, sondern auch im Job gemeinsam unterwegs.
Gute Planung ist gefragt
Dazu gehören die beiden 13- und 15-jährigen Töchter Fiona und Sina, die Damhirsche natürlich sowie die weiteren Tiere, die den Hof der Familie Abplanalp in Unterbach beleben: zwei Katzen, ein Hund, ein Gehege mit Hasen, eine Schar Hühner und ein Aquarium voller Zierfische. «Wir haben uns als Familie in den Tieren gefunden», kommentiert Stefan die Aufzählung mit einem Schmunzeln. Und wie bringen Sonja und Stefan den Job, die Kinder, die Tiere, den Hof und den Haushalt unter einen Hut? «Es braucht schon eine gute Planung», hält Stefan fest und wird von seiner Gattin mit einem Halbsatz sekundiert: «…und den Willen, einander auszuhelfen.»
In seiner Rolle als Einsatzleiter sei der Feierabend nie garantiert, hebt Stefan Abplanalp noch hervor. Da könne es schon mal vorkommen, dass Sonja zur Arbeit müsse und die Töchter an einem Abend zwei, drei Stunden allein seien, ehe er es nach Hause schaffe. «Das ist dann die Zeit, welche die beiden so richtig für sich geniessen», merkt er mit einem Augenzwinkern an.
Über 6000 Einsätze pro Jahr
Der Rettungsdienst der Spitäler fmi AG ist bei Notfällen im östlichen und zentralen Berner Oberland rund um die Uhr für eine rasche medizinische Betreuung sowie die präklinische Versorgung zuständig. Über 80 Mitarbeitende engagieren sich dafür. Der Rettungsdienst verfügt über je einen Stützpunkt in Frutigen, Meiringen und Wilderswil. Im Winter ist er zusätzlich in Adelboden und Grindelwald stationiert. Am Tag stehen fünf bis sieben Teams bereit, in der Nacht deren vier. Im Verlauf eines Jahres führt der Rettungsdienst über 6000 Einsätze durch.
Zu den Personen
Sonja und Stefan Abplanalp sind für den Rettungsdienst der Spitäler fmi AG tätig. Sonja ist 45-jährig und Transportsanitäterin, der 43-jährige Stefan fungiert als stellvertretender Leiter des Rettungsdienstes. Das Paar wohnt mit den beiden Töchtern auf dem eigenen Hof in Unterbach. In der Freizeit ist Sonja regelmässig mit dem Velo unterwegs, ab dem Spätsommer beim Pilze Suchen in den Wäldern anzutreffen und im Winter neuerdings auf der Langlaufloipe. Stefan zieht es mit dem Hund oft in die Natur, zudem geht er auf die Jagd.
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